© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Durchalteparolen aus dem Kanzleramt
Asylkrise I: Angesichts des wachsenden Drucks auf die Bundeskanzlerin fällt in Berlin immer häufiger der Name Wolfgang Schäubles
Paul Rosen

Es steht nicht gut um Angela Merkel in diesen Tagen. Um Sigmar Gabriel übrigens auch nicht. Die Bundesregierung bekommt in der Flüchtlingsfrage, um ein früheres Wort von Horst Seehofer aufzugreifen, den Korken nicht mehr auf die Flasche. Vor einigen Wochen mißachtete ganz Berlin die Warnungen des bayerischen Ministerpräsidenten, die jetzt an Dramatik zunehmen: „Wenn die Asylpolitik nicht korrigiert wird, dann geht das an die Existenz von CDU und CSU.“ 

Es geht längst nicht mehr allein um die Existenz von CDU und CSU. Der Staatsrechtler und frühere Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) sagte an die Adresse der Kanzlerin: „Der Satz vom angeblichen Asylrecht ‘ohne Grenzen nach oben’ ist ebenso politisch wie rechtlich falsch und unhaltbar.“ Der frühere CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler sieht einen schleichenden Verfall der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Verfassungsverstöße wie gegen den Asylartikel würden schulterzuckend mit Verweis auf mangelnde Praktikabilität der Umsetzung hingenommen. 

Vom schleichenden Verfall der Rechtsstaatlichkeit bis zum Verfall des Rechtsstaates ist es nicht weit. Und auf diesem Weg befindet sich Deutschlands politische Führung. Der frühere Präsident des Bundesnachrichtendienstes und Innenstaatssekretär August Hanning warnt, jeder Tag bringe Deutschland näher an eine innenpolitische Krise. 

Die Kritik aus der CSU wird schärfer

Die Hilferufe an die Regierung, daß das ganze System der Flüchtlingsaufnahme bald zusammenbricht, häufen sich. Landräte schreiben an Merkel. Über 200 Bürgermeister haben einen Alarmbrief nach Berlin geschickt. Merkel setzte wohl große Hoffnungen auf einen europäischen Gipfel am Wochenende. Doch in Brüssel gab es nur wohlfeile Absichtserklärungen, aber keinen Fahrplan, wie die Einwanderungsflut eingedämmt werden soll. Die Kanzlerin rettet sich in Allgemeinplätze. Sie wehklagt, es sei nicht gelungen, „geordnete Verhältnisse“ herzustellen, und erhöht zugleich den Druck auf das deutsche Volk: „Ja, es sind sehr, sehr viele. Aber wir sind 80 Millionen. Wir können und werden diese Integration schaffen.“ Offenbar ist die Kanzlerin noch nie bis Berlin-Neukölln gekommen. Dort könnte sie erleben, wie ein Stadtteil orientalische Züge annimmt und es nicht mehr schafft.

Die offiziellen Erklärungen erinnern an Durchhalteparolen, die im krassen Gegensatz zu den Umfragen stehen. Die CDU/CSU hat binnen weniger Wochen jeden siebten Wähler verloren. Dennoch macht die zeitweilig als kanzlerfähig gehandelte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen artigen Hofknicks: „Bei aller verständlichen Unruhe angesichts der nie dagewesenen Lage weiß die Basis der Union sehr genau, daß niemand Deutschland und Europa besser durch diese schwere Zeit steuern kann als die Kanzlerin.“ Allerdings ist von der Leyen angesichts politischer und persönlicher Probleme (Affäre um das Gewehr G 36, Doktorarbeit) zur Zeit kanzlerunfähig. Widerspruch kam prompt aus der CSU. Seehofer erklärte, die derzeitigen Umfragewerte von 35 Prozent müßten noch nicht der Tiefstand sein. Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) stellte recht forsch fest: „Ich sehe die dringende Notwendigkeit, daß in der CDU Meinungsbildungsprozesse, die an der Basis stattfinden, auch ankommen in der Spitze.“ 

Die Kritik aus der CSU konnte Merkel bisher als bayerisches Granteln herunterspielen. Aber an ihrem Finanzminister und Vorgänger im Amt des Parteivorsitzes, Wolfgang Schäuble, kommt sie nicht vorbei. Schäuble stellte sich in der jüngsten CDU-Präsidiumssitzung deutlich gegen Merkel. Den von Generalsekretär Peter Tauber verbreiteten Rückhalt bis zu 80 Prozent für Merkel in der Partei sehe er nicht. Wenn die Maßnahmen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms nicht bald Wirkung zeigen würden, stehe der CDU eine Zerreißprobe bevor. Die Sätze des Finanzministers decken sich mit Seehofers Interpretation. 

Im Vergleich zu den Warnungen der alten Männer sind Beruhigungsworte von CDU-Abgeordneten wie weiße Salbe. Wenn CDU-Vize Thomas Strobl etwa sagt, er kenne „in der Unionsfraktion niemanden, der Angela Merkel als Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende in Frage stellt“, dann scheint er in seiner baden-württembergischen Landesgruppe oder in der Parlamentarischen Gesellschaft, dem Abgeordnetenrestaurant, die Ohren auf Durchzug gestellt zu haben. 

Merkel hat die Probleme bisher nicht einmal ansatzweise in den Griff bekommen. Es geht dabei nicht nur um die Begrenzung des Zustroms von Hunderttausenden. Mehr als der Ruf nach Transitzonen, die mit der SPD nicht zu machen sind, und eine beschleunigte Abschiebung abgelehnter Asylbewerber ist der Bundeskanzlerin bisher nicht in den Sinn gekommen. Wenn sie die Probleme nicht löst, werden sich die Probleme eine andere Lösung suchen. 

Die Probleme werden dabei keine Rücksicht auf Merkels im November anstehendes zehnjähriges Amtsjubiläum nehmen. Eine (Interims-)Lösung an der Spitze der Bundesregierung könnte durchaus den Namen ihres Vorgängers Schäuble tragen, den sie einst schmachvoll erniedrigte. Von ihm heißt es, er traue sich zu, die CDU zu retten. Vielleicht sogar die Bundesrepublik.