© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

„Es geht um mehr als Stückzahlen“
VW-Krise: Schon vor Dieselgate brach die Nachfrage in Brasilien und Rußland dramatisch ein / Stehen 30 Milliarden Euro auf dem Spiel?
Thomas Fasbender

Im VW-Dieselskandal überschlagen sich die Ereignisse: Kunden im Besitz von Fahrzeugen mit der 1,6-Liter-Version des Abgasschummel-Aggregats EA 189 (Euro-5) kommen möglicherweise in den Genuß einer Rückkaufprämie beim Neuwagenkauf. Bei dem besagten Motor bedarf es nämlich zur Korrektur der Katalysatorsteuerung auch neuer Technik – es muß geschraubt werden. Noch ist offen, wie hoch eine solche Prämie ausfällt, ob der Kunde zwischen Fahrzeugtausch und Reparatur wählen kann und ob sie auf Deutschland begrenzt sein wird. Es könnte europaweit um drei Millionen Fahrzeuge gehen.

Reparatur, ab nach Afrika oder in die Schrottpresse?

Wohin aber mit den eingetauschten Fahrzeugen? Afrika wäre denkbar. Das zentralasiatische Kontinentalklima dürfte hingegen im Winter für Dieselstartprobleme sorgen. Die Türkei oder Rußland verfügen längst über TÜV-ähnliche Strukturen. Zwar mögen die Grenzwerte andere als in der EU sein, dennoch ist fraglich, ob PKW mit manipulierter Abgasreinigung in diesen Ländern importiert und verkauft werden dürfen. Sollten die Dieselautos in der Schrottpresse landen, stellt sich die Frage, ob die Reparatur auf VW-Kosten am Ende nicht doch günstiger kommt.

In den ersten neun Monaten 2015, also vor Bekanntwerden der Affäre, zeigen die Absatzzahlen der Wolfsburger in den meisten Märkten nach oben – mit zwei großen Ausnahmen: Brasilien und Rußland. Dort brachen die Auslieferungen aufgrund der russischen Wirtschaftskrise per Ende September um 33,4 bzw. 40,3 Prozent ein. Die Vertriebsregion Westeuropa verzeichnete hingegen einen Zuwachs von 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. In Deutschland lag das Plus bei 4,6 Prozent. Leicht gestiegen sind die Auslieferungen auch in den USA. Ebenfalls wenig Grund zur Klage gibt es in China. Trotz der schwächelnden Konjunktur liegen die Konzernmarken dort zweistellig im Plus.

Das größte Absatzplus verzeichnete in diesem Jahr bislang Porsche. Mit 28 Prozent mehr Fahrzeugen als im Vorjahr (173.000 bis Ende September) rückt die Rekordmarke von 200.000 Porsche für das Gesamtjahr 2015 in greifbare Nähe. Der eigentliche Gradmesser der Auswirkungen des Dieselskandals sind jedoch die Bestelleingänge seit Ende September. Dazu ist noch wenig bekannt. Zuletzt hieß es aus dem Konzernvertrieb, in Deutschland würden sogar mehr Autos bestellt. Europaweit sei die Entwicklung uneinheitlich. In Großbritannien sollen die Diesel-Bestellungen gesunken sein, und in der Schweiz gilt sogar ein Zulassungsverbot für neue VW-Diesel.

Ironie des Schicksals: Im zweiten Quartal 2015 hatte das Unternehmen das lang ersehnte Ziel seines früheren Chefs Martin Winterkorn erreicht und Toyota bei den weltweiten Neuzulassungen überholt. Allem Anschein nach wäre 2015 für den Konzern ein Glanzjahr geworden – diese Hoffnung hat sich jedoch im September gründlich zerstört. Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management an der Fachhochschule Bergisch Gladbach schätzt die drohenden Kosten aus dem Skandal einschließlich Strafen und Schadenersatz auf bis zu 30 Milliarden Euro. Um allzu hohen Forderungen vorzubeugen, reiste Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) vor wenigen Tagen in die USA. Dort ermitteln die Umweltbehörde EPA, das Justizministerium und die Wettbewerbshüter gegen den größten EU-Automobilhersteller. Dobrindt versprach seinem US-Amtskollegen Anthony Foxx, die Regierung in Washington auf dem neuesten Stand zu halten.

Werden VW-Marken verkauft oder fusioniert?

Der neue VW-Chef Matthias Müller hat auf jeden Fall mehr Baustellen, als ihm lieb sein dürfte. Zur Verstärkung holt er sich externe Leute. Ab 2016 soll Ex-Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt (SPD) im Vorstandsressort Integrität und Recht das wiederholen, was ihr bereits bei Daimler gelang. Die Konzernstrategie liegt ab November in den Händen des Ex-Opel- und Chevrolet-Chefs Thomas Sedran. Der frühere Unternehmensberater wird Müller bei den mittel- und langfristigen Weichenstellungen zuarbeiten – von seiner Tätigkeit hängt auch das wirtschaftliche Überleben des Unternehmens ab.

Das Stichwort heißt Markenstruktur. Gehen Bentley und Bugatti an Porsche und wird Audi sich um Lamborghini und die Motorradschmiede Ducati kümmern? Werden Marken verkauft oder zusammengelegt? Was wird aus der Nutzfahrzeug-Allianz der Hersteller MAN und Scania, die seit Jahren keinen gleichen Tritt finden? Und was aus der spanischen Tochter Seat, die trotz jüngster Rekordumsätze (Erfolgsmodell Alhambra) seit 2007 keinen Gewinn abliefert? Was geschieht mit der wirtschaftlich sinnlosen Gläsernen Manufaktur in Dresden? Wird der verlustbringende Phaeton komplett eingestampft oder hat nur er wenigstens eine trügerische Zukunft als E-Auto der Oberklasse?

Und wann werden die Wolfsburger in Nordamerika endlich anständige Margen und Gewinne einfahren? Der für den neuen dortigen Vorstandsposten ausersehene erfolgreiche Škoda-Chef Winfried Vahland hat den Konzern kurz nach Bekanntgabe seiner Beförderung verlassen. VW benötige keine Revolution, sagt Müller. Der VW-Vorstandsvorsitzende sagt aber auch, manche hätten bisher „nicht richtig verstanden, daß es bei der Strategie 2018 um viel mehr geht als um Stückzahlen“ – nämlich „um die Mitarbeiter, um Kundenzufriedenheit, um Qualität, aber genauso um Nachhaltigkeit“. Audi-Personalvorstand Thomas Sigi will sogar Personal aufbauen – doch daß im Gesamtkonzern gespart werden wird, steht außer Frage (JF 44/15).

Gerüchte über Beförderungsstopps machen die Runde, und es heißt, die vertraglich zugesicherten Heimflüge vieler Führungskräfte mit firmeneigenen Privatjets würden gestrichen. VW steht vor einschneidenden Zäsuren, die noch viel Staub aufwirbeln werden.

Informationen zum VW-Dieselgate: automobil-produktion.de

Foto: Montage im neuen Benzinmotorenwerk in Kaluga südlich von Moskau: In Rußland brachen die VW-Absätze dieses Jahr um 40,3 Prozent ein