© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Der letzte Sommer der Unschuld
Schimmeljeans und Braunkohlemief: Peter Richter über die Wendezeit, als das östliche Deutschland noch von vielen Jugendlichen bevölkert war
Paul Leonhard

Für seinen autobiographischen Roman „89/90“ ist Peter Richter gefeiert worden. Im einstigen Dresdner Szeneklub „Scheune“ wurde ihm im September der Kunstpreis der Hanna-Johannes-Arras-Stiftung verliehen. Dieser ist mit 5.000 Euro dotiert und versteht sich eigentlich als ein Stipendium, das Dresdner Künstler in ihrer kreativen Arbeit unterstützen soll. Nun ist Richter, Jahrgang 1973, zwar gebürtiger Dresdner, arbeitet aber seit 2012 als Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York und war zuvor in der multikulturellen Szene Berlins zu Hause, wo er als Redakteur für die FAZ arbeitete.

Erzählt aus dem Blickwinkel eines altklugen Bohemien

Richter, der sich aktuell wegen Pegida & Co. „für seine Heimat in Grund und Boden“ schämt, hat seiner Geburtsstadt immerhin einen Wenderoman geschenkt, der in den Gleichaltrigen und den eine Generation Älteren eine Zeit wieder erstehen läßt, die in ihrer Turbulenz und Schnellatmigkeit einzigartig war: die Monate vor dem Mauerfall und dem Wiedervereinigungstaumel, als man die grauen Fassaden, die endlosen Reihen parkender Trabants und Wartburgs, die ermüdenden Ansprachen irgendwelcher Funktionäre noch für marxgegeben ansah und sich irgendwie an die Weisheiten des längst im Westen etablierten Dissidenten-Liedermachers Wolf Biermann klammerte, immerhin im besseren Teil Deutschlands zu leben.

Im Sommer 1989 beginnt Richters Roman. Aus dem Blickwinkel eines inzwischen altklugen Bohemien erzählt er lakonisch-ironisch von einem unsicheren, aber zornigen 16jährigen und seinen ebenso suchenden, ebenso den realsozialistischen Alltag genießenden Freunden. Die heißen K., S., L., W., „kleiner D.“ und bekommen nur selten, wie A., der Popper, oder W., der Banknachbar, noch einige Adjektive, die dem Leser das Zurechtfinden erleichtern. Eine Ausnahme ist H., der fortan mit seinem Spitznamen „Baby“ leicht zuzuordnen ist. Und dann ist natürlich der geheimnisvolle dicke Hippie „Kiste“, keine fiktive Figur, sondern – das erfährt der Leser aber erst im Epilog –Stasispitzel und – das erfährt der Leser nicht – der bestbezahlte in Dresden, eine noch heute legendäre Figur, die zu Richters Zeiten nicht nur bei der Diakonie Suppe für Jugendliche kochte.

Die Handelnden sind pubertierende Oberschüler, die nach der Schule Feten (keine Partys) feiern und im Freibad in Cliquen herumhängen: „Was für ein absolut wunderbarer Quark, dieses Leben als Junge: so nicken, daß es auch als Nichtnicken durchgehen konnte, Stimmen tiefer stellen, keinen Schmerz kennen, wie ein Autist durchs Leben schlurfen.“ Richter beschreibt die Langhaarigen, Grufties, Popper, Kunden, Pfarrerstöchter und Friedensaktivisten und deren spöttische Distanz zu den „Schimmeljeans“ tragenden Normalos, den Schulalltag, die kleinen Rituale. 

Er erzählt von vormilitärischer Ausbildung, vom Jugendhaus „Rudi Arndt“ und der Unschuld des letzten Sommers im Dresdner „Tal der Ahnungslosen“, wo es immer wegen des dort nicht empfangbaren West-Fernsehens einen Informationsrückstand gab: „Ferienende kam. Tischlerlehre kam (für S.). Einberufung kam (für K.), Schulbeginn kam (für mich). Und sonst gar nichts.“ Und dann überstürzten sich plötzlich die Ereignisse: Die Prager Botschaftsflüchtlinge reisen über Dresden in den Westen. Die Schlacht um den Hauptbahnhof verändert alles. Es folgen Demonstrationen, ein grotesker Republikgeburtstag, Mauerfall, Wahlkampf, Währungsunion, Wiedervereinigung.

Viel Milieu, doch die Akteure bleiben farblos

In der Welt, die Richter auferstehen läßt, blubbern Kohleöfen, fließt ungarisches Stierblut (ein Rotwein), röhren die Hundertfünfziger von MZ und fahren einem „bei dem Wort Frieden automatisch Panzer durch den Kopf“. Der Berichterstatter ist mit seiner Robert-Smith-Frisur bei all dem dabei und steht doch irgendwie am Rand. Und so treffend Richter viele Details offeriert, die Person des Ich- oder Wir-Erzählers bleibt seltsam farblos.

Eher irritierend als hilfreich sind die vielen Fußnoten, denen der Leser ab Seite 10 begegnet und deren es insgesamt 134 gibt und Begriffe wie NVA, SED und Personalausweis erläutern. Der zu empfehlende Teil des Romans endet auf Seite 246. 

Dann beginnt „Buch zwei: 1990“. Das kann man lesen, muß man aber nicht. Richter zitiert Flugblätter und Parteiprogramme, beschreibt seitenlang, wie Punks und Skinheads sich gegenseitig verprügelten. Er hetzt mit dem Leser durch das Jahr 1990 und resümiert: „Wir hatten den Westen gesehen, besuchsweise, und wir haßten es jetzt schon, daß wir auch noch danke sagen sollten dafür.“ Immerhin, im Epilog erfährt man, was aus einigen der Protagonisten geworden ist. Ausgespart bleibt L., die nacktbadende Kommunistin, die als 17jährige nach Leningrad auswandern wollte. Schade, oder schon ein neues Buch?

Peter Richter: 89/90. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2015, gebunden, 416 Seiten, 19,90 Euro