© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

„Wir wollten nicht, daß die DDR verschwindet …“
DDR-Nostalgiker analysieren 25 Jahre später das Ende ihrer „Arbeiter- und Bauernstaates“: Die unstillbare Sehnsucht nach dem Früher
Jörg Bernhard Bilke

Der 1946 in Ost-Berlin gegründete Verlag „Neues Leben“ war Eigentum der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FdJ). Er hat Mauerfall und Grenzöffnung von 1989 überstanden und gehört heute zum guten Dutzend der Nostalgie-Verlage in der einstigen Hauptstadt der DDR, deren Buchproduktion ein ununterbrochener Hymnus auf den gescheiterten SED-Staat ist.

Dort ist vor wenigen Wochen, herausgegeben von Burga Kalinowski, von deren Lebenslauf und DDR-Karriere der Leser nichts erfährt, ein Buch erschienen, das von Plattheiten nur so strotzt. Die emsige Befragerin, das kann man notdürftig im Internet erfahren, ist irgendwann und irgendwo in Österreich geboren, dann aber in der DDR aufgewachsen, wo sie zur Bibliothekarin ausgebildet wurde. Heute arbeitet sie als Journalistin in Berlin. Im Vorwort dieses umfangreichen Bandes teilt sie mit, 42 Ex-DDR-Bürger befragt und 27 Gespräche hier veröffentlicht zu haben, darunter auch die mehrerer Prominenter wie Peter-Michael Diestel, Rainer Kirsch, Christa Luft, Gisela Oechelhaeuser, Manfred Stolpe, Hans-Jochen Tschiche und Gerhard Wolf.

Ausgerechnet der erst DSU-, dann CDU-Politiker der Wendezeit, Peter-Michael Diestel, eröffnet den Reigen mit einem an Ignoranz und Eitelkeit kaum zu unterbietenden Artikel. Er war vor seinem Jura-Studium 1974/78 Facharbeiter für Rinderzucht und trägt daher den Titel „Verdienter Melker des Volkes“, in der 1990 demokratisch gewählten DDR-Regierung war er Innenminister. Warum es in Leipzig im Herbst 1989 Demonstrationen gegeben hat, versteht er nicht, denn: „Man konnte in der DDR in der zweiten Hälfte der Achtziger gut leben, wir hatten alle Arbeit“, nur diese „tumbe Bevormundung“ hätte ihn gestört. Und dann drischt er, der sich als „Christ“ und zugleich „Anarchist“ versteht, vulgärmarxistische Phrasen wie aus dem „Lehrbuch der Politischen Ökonomie“ von 1954. Analysieren kann er nicht, Geschichtskenntnisse läßt er keine durchblicken, was die Leipziger Revolutionäre wollten, war ihm fremd.

Tiefer Trennungsschmerz alter DDR-Intellektueller

Nirgendwo in diesem höchst überflüssigen Buch wird auch nur ansatzweise darüber diskutiert, daß der SED-Staat eine blutige Diktatur war, an deren Grenzen Hunderte erschossen wurden, die dort nicht mehr leben wollten. Nirgendwo liest man, daß die DDR-Regierungen in vierzig Jahren niemals demokratisch gewählt wurden, daß in der DDR-Verfassung keine Gewaltenteilung vorgesehen war, daß alle im 19./20. Jahrhundert erkämpften Bürgerrechte wie Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Informationsfreit, Streikrecht abgeschafft waren. Niemandem der 27 Beiträger hallt der Ruf der Leipziger Demonstranten vom Herbst 1989 „Wir sind das Volk!“ noch im Ohr, nachdem die Ost-Berliner Nomenklatura seit 1949 wahrheitswidrig behauptet hatte, im Namen und im Auftrag „des Volkes“ zu handeln.

Fast alle Beiträge sind auf den ewigen Jammerton darüber gestimmt, daß der „Kapitalismus“ alles, was gut war am DDR-Sozialismus, rücksichtslos ausgelöscht habe. Selbst der in Westdeutschland kaum bekannte Lyriker und Essayist Rainer Kirsch, geschiedener Ehemann der Lyrikerin Sarah Kirsch (1935–2013), findet es unerträglich, daß die einstigen DDR-Schriftsteller nun den Marktgesetzen ausgeliefert seien und gute Texte liefern mußten. Auch die Gesellschaftswissenschaftlerin Christa Luft, die 1956 an der „Arbeiter- und Bauernfakultät“ der Universität Halle das Abitur machen durfte, die als studierte Ökonomin zutiefst ernüchternde Einblicke in die Planwirtschaft hatte, dieses „uns von der sowjetischen Besatzungsmacht sozusagen eingepflanzte System“, beruft sich auf Christa Wolfs wirklichkeitsfernen Aufruf vom 26. November 1989 „Für unser Land“ und bekennt: „Wir wollten nicht, daß die DDR verschwindet …“ 

Wie das in der Praxis zu realisieren gewesen wäre, verrät sie den Lesern nicht. Von der ostpreußischen Pfarrerstochter Gisela Oechelhaeuser, die 1975 an der Leipziger Karl-Marx-Universität in Germanistik promoviert wurde, erfährt man von einer geheimen Gesprächsrunde im September 1989 zwischen „Kulturschaffenden“ und SED-Politbüromitglied Kurt Hager, wo schonungslos Kritik an den DDR-Zuständen geübt wurde. Im Schlußwort zeigte sich der vergreiste SED-Funktionär, seit 1963 auch Vorsitzender der „Ideologischen Kommission“, uneinsichtig und enttäuscht von den „führenden Künstlern des Landes“, die nicht einsehen wollten, daß „der Imperialismus zu seinem finalen Schlag gegen uns ausgeholt hätte“.

Der einstige Kirchenjurist Manfred Stolpe ist 1990 in die Landespolitik übergewechselt und war bis 2002 Brandenburgs Ministerpräsident. Er wollte, nach Verabschiedung der Schlußakte von Helsinki am 1. August 1975, einen „verbesserlichen Sozialismus, eine bessere DDR“ und war dann furchtbar enttäuscht, daß die Leipziger Revolutionäre und die Mauerstürmer 1989 überhaupt keinen Sozialismus mehr wollten. 

Bei Hans-Jochen Tschiche, dem protestantischen Theologen, der in West-Berlin studiert und seit 1978 die „Evangelische Akademie“ in Magdeburg geleitet hat, war das ähnlich. Er war voller „Neugier auf das Neue“, die SED-Verbrechen übersah er, der totalitäre Staatssozialismus war für ihn „vom rechten Bahnhof abgefahren“, aber „während der Fahrt nur aufs falsche Gleis geraten“. Dieses schreckliche Eingeständnis nimmt man kopfschüttelnd zur Kenntnis. Bleibt schließlich Gerhard Wolf, der Ehemann der Schriftstellerin Christa Wolf, der heute noch vom Aufruf „Für unser Land“ begeistert ist. Selbst wenn der Trennungsschmerz der DDR-Intellektuellen 1989/90 gewaltig war, ein Vierteljahrhundert später müßte die Erkenntnis gereift sein, in welchem Staat man gelebt und welchen Herren man gedient hat!

Burga Kalinowski: „War das die Wende, die wir wollten?“ Gespräche mit Zeitgenossen. Verlag Neues Leben, Berlin 2015, gebunden, 320 Seiten, 19,99 Euro