© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Galantes Rekeln auf dem Diwan
Navid Kermani, Friedenspreisträger 2015, erschließt sich mit Faszination das ihm unbekannte Christentum über die Bildhaftigkeit
Claas Nordau

Alle guten Dinge sind einfach. So könnte es auch in Navid Kermanis neuem Buch „Ungläubiges Staunen“ sein. Als gläubiger Muslim kann er für seine Betrachtung „Über das Christentum“ – so der Untertitel – bei Null beginnen, obwohl oder gerade weil er in einem protestantischen Umfeld geboren und aufgewachsen ist. Der Protestantismus hat nämlich wie der Islam für die Bilderlust des Katholizismus, der weniger auf Religiosität als die Befriedigung der Schaulust und die Illustrierung biblischer Texte inklusive der Vermittlung der Schrecken ewiger Verdammnis setzt, wenig Verständnis.

Trotz überschaubarem Konzept – kurze Essays zu Stichworten wie Liebe, Kreuz, Wissen, Gebet – holpert die Ausführung und macht die Lektüre zur Tortur. Denn Kermani schreibt wie er in Interviews spricht: Ohne Punkt und ohne Komma. Schwelgt in Bibel- und Koranzitaten. Greift in den schier unerschöpflichen Fundus der Kirchenschätze. Er macht unmißverständlich klar, daß er Heilige als die Kämpfer für eine bessere Welt begreift, erwähnt seinen rechtgläubigen schiitischen Großvater, einen bis mehrere „katholische Freunde“, die wahlweise als Alter ego oder Sidekicks fungieren, reist zu Museen in Europa, Kirchen und Klöstern im Nahen Osten und auf dem Balkan und berichtet auch davon. 

Das Resultat ist eine Art Stundenbuch für den erbaulich-anspruchsvollen Leseabend, beginnt mit einem großen Tafelbild, das Apostel und Evangelist Lukas höchstpersönlich von Maria, der leiblichen Mutter von Jesus Christus gemalt haben soll und endet mit dem großen abstrakten Kirchenfenster, das Gerhard Richter für den Kölner Dom entwarf. Moderne Maler wie Paul Gauguin oder Vincent van Gogh, die sich ihre persönlichen Kämpfe mit dem Glauben und der Existenz Gottes ohne kirchlichen Auftrag zum malerischen Thema machten, fehlen allerdings vollkommen. 

 Kermanis Schau ist ebenso subjektiv wie unvollständig

Obwohl Kermani darauf besteht, ohne „wissenschaftlichen Anspruch“ nur eine von „Staunen“ geprägte „frei assoziierte Meditation“ (kluge Metapher für ein sehr subjektives, sehr unvollständiges Sachbuch) über gut vierzig Bilder (mit den zugehörigen Abbildungen), „Heilige und Rituale“ in Worte verfaßt zu haben, orientiert er sich natürlich auch an den Klassikern. Caravaggio gehört mit acht Bildern zu seinen Favoriten („der Maler mit dem schärfsten Blick für die Erscheinung des Himmlischen für die Irdischen“). Ein Rembrandt, ein Georges de la Tour, ein Stephan Lochner, ein Hans Memling bieten Steilvorlagen für Meditationen, die auch Pilatesübungen und Dürers Schlafzimmerikone der „Betenden Hände“ unter einen Hut bringen.

Der Verlag nennt die wilde Stilmischung aus Bildbeschreibung, Reportage, Bibel- und Koranzitaten marketingbeflissen einen Akt von „wunderbarer Islamisierung des Abendlandes“. Die Formulierung müßte aber eher „klammheimliche Christianisierung des Islam“ lauten, denn Kermanis Schwerpunkt liegt klar bei der naiven Bewunderung des Katholizismus und manchmal einer Verzückung, um die ihn jeder christliche Mystiker beneiden könnte. 

So will Kermani – ein Beispiel – in einem kreuztragenden Jesus von Sandro Botticelli in der Pinacothèque de Paris einen malerischen Trickeffekt entdeckt haben, der Jesus ab einer bestimmten Entfernung wie eine Frau aussehen läßt. Man ist versucht, ihm zu versichern, daß alle männlichen Botticelli-Figuren – zeit- und botticellistilgemäß – weiblich wirken.  

Um klarzumachen, daß er auch anders als verzückt kann, setzt er auf Schockierendes: „Es gibt so Kinder, die sich mit fünf Jahren immer noch in der ungeputzten Pofalte kratzen, ungeniert, und einem die Scheiße auch noch entgegenstrecken.“ Nicht unbedingt appetitlich, aber eine der Assoziationen, die eine frühe (um 1300) Jesusfigur in Kermani provoziert. Anlaß zu solcher Vulgärmeditation ist eine Nußbaumschnitzarbeit aus dem Berliner Bode-Museum, die, berühmt für ihre Häßlichkeit, Kermani zu dem weiterführenden Gedanken bringt, daß im heutigen Christentum nicht mehr viel Platz sei für Schönheit. 

Daß nicht alle Auftragshandwerker der Gotik begnadete Meister waren, der eine oder andere sich seine künstlerische Freiheit auch für Geld nicht nehmen ließ oder vielleicht sogar eine Karikatur vom verfetteten Wonneproppen des Auftraggebers fertigte – diese Schlußfolgerung hätte mehr Erkenntnis gebracht. Davon abgesehen: Eine Fronleichnams-prozession oder ein Papstbegräbnis, erlebt oder TV-übertragen, hat durchaus wahrnehmbare Schönheit. 

Bemerkenswert sind hingegen solch aufschlußreiche Beobachtungen wie die Feststellung, daß Marienbilder in der gesamten Kirchenmalerei Frauen zeigen, die altersgemäß nicht die Mutter eines Mannes sein können, der in seinen besten Jahren starb. Meist sähen sie aus wie seine Frau oder Partnerin. Für einen Orientalisten wie Kermani sollte dies die Schlußfolgerung erlauben, daß die katholische Kirche die Person Marias genauso als erotische Geheimwaffe einsetzt wie der Islam die immer wieder erwähnten 72 Jungfrauen, die angeblich irgendwo im Paradies auf tapfere Kämpfer warten. Tut es aber nicht. Stattdessen liefert er seitenlange Beschreibungen von nicht immer hochklassigen Bildern (auffallend fehlproportioniert „Der Liebeszauber“ von einem Kölner Meister von 1470), die Oberflächenimpressionen bleiben und daher eher verwirren als klären und zu oft in Lobeshymnen auf das ach so tolerante Christentum münden.

Kermani selbst ist 1967 in Siegen geboren, „politisch in der deutschen Friedens- und Umweltbewegung der achtziger Jahre sozialisiert“, Deutscher, Iraner, gläubiger Muslim, Vorzeigeintellektueller, Orientalist mit Professur und Lehrauftrag an verschiedenen Universitäten weltweit, überzeugter Europäer, überzeugter Radfahrer und überzeugter 1.FC-Köln-Fan und versteht Religion als sinnliches Erlebnis. Allein – ist der Glaube an eine humanistische Vernunft nicht auch ein sinnliches Erlebnis? Und wie sieht es mit einem einfachen guten Essen aus? Offenbar gehört er zu der Generation Bürger mit Migrationshintergrund, die auf der Sonnenseite des Lebens aufgewachsen sind und daraus ihren Optimismus bezieht. 

Religiöse Symbiose aus dem Wolkenkuckucksheim

In einer Rede nach den Charlie-Hebdo-Attentaten sagte er, daß man „die Fratze abreißen“ müsse, „die den Islam entstellt. Nicht Engstirnigkeit und Dogmatismus“ brauche es, „sondern Vernunft und Toleranz, nicht Unterdrückung und Strafe, sondern Kultur und Humor, der eigentliche Dschihad“ sei „nicht der Kampf gegen Ungläubige, sondern der Kampf gegen sich selbst“. Wohl wissend, wo seine geistige Heimat ist (eine Fatwa wie Kollege Salman Rush-die hat er in der Bundesrepublik nicht zu erwarten; der bezeichnete übrigens „Religion als eine mittelalterliche Form der Unvernunft, eine echte Gefahr unserer Freiheiten.“), erwähnte er in seiner Bundestagsrede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes „fast neidisch“, daß der Islam im deutschen Christentum eine Akzeptanz gefunden hat, von der das Christentum in den meisten islamischen Ländern nur träumen könne. „Neidisch“ sei er auch auf den zurückgetretenen Papst Benedikt XVI., der so selbstsicher behaupte, daß „große Dinge durch ihre Wiederholung nicht langweilig würden sondern größer“.

Aber das klingt schon wieder nach Verzückung. Einer, der um das „Paradox“ weiß, daß die Würde des Menschen antastbar ist (so der Beginn Kermanis hochgelobter Rede), weiß auch, daß man für Menschenwürde kämpfen kann. Zu glauben, daß Religion – welche Religion meint er: seine, den Islam, oder unsere, das Christentum, oder eine vorweggenommene Symbiose der beiden? – etwas bedeutet, das dem Menschen erlaubt, über sich hinauszuwachsen, ist nicht genug. Visionen den Kirchenmalern zu überlassen auch nicht. Einer wie er muß wissen, daß man in einer Zeit interpretierbarer Gesetze (was sind dagegen die Zehn Gebote in ihrer Klarheit!), einer Rechtsprechung zugunsten des besser bezahlten Rechtsanwalts, und Gerechtigkeit, die es nur noch im Kino gibt, mit Reden allein kaum die Unantastbarkeit der Menschenwürde erreicht. 

Flucht in die Kunst, besonders die Kirchenkunst, ist da nur ein Strohhalm, an dem sich immer weniger rechtgläubige Christenmenschen festhalten wollen, da sie den Heilsversprechen vom Irgendwo im Jenseits trotz aller malerischen Tricks immer weniger Glauben schenken. Ersatzreligionen und irdische Ersatzparadiese gibt es zwischenzeitlich mehr als genug. Und Alltagsprobleme auch: wer sich einmal seine Bratpfanne mit einem Muslim teilen mußte, weiß, was das bedeutet.

Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, gebunden, 303 Seiten, 24,95 Euro