© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Der Flaneur
Irgendwas war diesmal anders
Paul Leonhard

Stimmengewirr in der Altstadtkneipe. Mit dem grauer werdenden Herbst bleiben die Touristen aus. Der wöchentliche Stammtisch kann sich ungestört ausbreiten. Um das dezente Reserviert-Schild sitzt eine bunte Truppe. Die meisten im fortgeschrittenen Alter. Zu erzählen gibt es viel. Die noch Berufstätigen schwärmen vom Sommerurlaub, die älteren, pensionierten von den gepackten Koffern. Einen Stammtisch noch, dann werden sie vor dem deutschen Winter in wärmere Länder fliehen. Auch in dieser mitteldeutschen Kleinstadt sind sie nur zu Gast. Hier haben sie ihren Dritt- oder Viertwohnsitz, weil die Stadt noch so ursprünglich ist, eine homogene Bevölkerung hat, ihre Architektur im Krieg nicht zerstört wurde. Und wegen des Stammtisches natürlich.

Ein Hochgewachsener in Trachtenjacke betritt den Gastraum, sieht sich um und steuert dann zielsicher auf die Runde zu. Er stellt sich vor. Neubürger seit vier Wochen. Herr sowieso, der heute leider verhindert sei, habe ihm den Tip mit dem Stammtisch gegeben. Der neue wird abgeklopft: Wo ist er einzuordnen. Ach, das Eckhaus habe er erworben, um es zu sanieren. Das sei ja interessant.

Bier für Bier packen sie ihre Lebenserinnerungen aus, erzählen Anekdoten unsteter Jahre.

Hier sind alle deutschen Stämme vertreten, Nord, Süd, West, Ost. Sogar ein aus Westpreußen stammender Heidelberger Professor im Ruhestand und ein oberschlesischer Germanist sitzen in der Runde. Bier für Bier packen sie ihre Lebenserinnerungen aus, erzählen Anekdoten aus unsteten Jahren. Als ich heimgehe, schwirrt mir der Kopf. Was für vollgepackte Leben, was für Geschichten! Und doch, irgend etwas war diesmal anders als an anderen Stammtisch­abenden. Aber was?

Als ich über den schwach beleuchteten Markt laufe, höre ich laute Stimmen. Eine Gruppe junger Araber diskutiert. Das ist es. Nichts hat diesmal die Gemüter erregt. Das Wort „Flüchtlingspolitik“ ist in den vergangenen vier Stunden nicht ein einziges Mal gefallen. Am sonst durchaus politischen Stammtisch einfach ausgeklammert. Und die beiden Alt-Achtundsechziger waren doch ebenfalls anwesend. Bemerkenswert.