© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Allem dienen, wenig kosten
60 Jahre Bundeswehr: Die aktuelle sicherheitspolitische Debatte zeigt, wie planlos die deutsche Politik im Hinblick auf die Zukunft der Truppe agiert
Nikolaus Heinrich

Sechzig Jahre zählt die Bundeswehr nun. Und fünfundzwanzig Jahre sind es, seitdem sie die Armee eines vereinten Deutschlands ist. Das sind zwar keine Traditionen wie die, in denen zum Beispiel britische Streitkräfte leben – aber doch solche, die vorzeigbar sind. Da ist es schon erstaunlich, wie wenig die Truppe bislang im Bewußtsein der Deutschen verankert ist. Und erst recht, wie planlos auch heute noch innerhalb der politischen Eliten des Landes über Aufgaben, Ziele und Stärke der Bundeswehr diskutiert wird. Ein selbstverständliches Instrument wie für die Regierungen zahlreicher Bündnispartner Deutschlands ist die Armee hierzulande jedenfalls noch lange nicht.

Einsatzerfahrung hat        Zusammenhalt geschaffen

Deutsche Sicherheitspolitik wird einer breiten Öffentlichkeit in unregelmäßigen Abständen in sogenannten Weißbüchern erläutert, also in vom Verteidigungsministerium erstellten und vom Kabinett beziehungsweise den für die Sicherheitspolitik relevanten Ressorts (Äußeres, Inneres, Wirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit) mitgetragenen Broschüren. Momentan befindet sich das zehnte Weißbuch in Arbeit, das seinen Vorgänger aus dem Jahr 2006 im nächsten Jahr ersetzen soll. Die Frage ist nun: Was wird das Weißbuch beinhalten? 

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat für die Erstellung ihres Weißbuches einen ganz neuen, für hiesige Verhältnisse geradezu revolutionären Weg beschritten: Das Ministerium eröffnet eine Internetplattform, auf der die deutsche Öffentlichkeit über die Sicherheitspolitik des Landes diskutieren kann. In einer Fülle von Gesprächsforen konnten und können sich zahllose Referenten aus unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Institutionen, aus Religion und Kultur, aus dem In- und Ausland zu sicherheitspolitischen Themen äußern – von Bundesministern wie Gerd Müller bis hin zu Militärbischof Franz Overbeck. Ein breiter Ansatz für eine gesamtgesellschaftlich, will sagen für die deutsche Politik der nächsten Jahre tragbare Lösung? 

Die einzelnen Diskussionsveranstaltungen haben allein durch ihre thematische Bandbreite (vom Einfluß der Naturwissenschaften bis zu ethischen Fragen) schon erschlagen können. Vor allem aber stellte sich heraus, daß die Probleme der jetzigen Bundeswehr auch die der zukünftigen sein werden. Denn wichtige Verlautbarungen aus dem Finanzministerium und dem Bundeskanzleramt machten klar, daß bei aller Bedeutung der Bundeswehr an eine drastische Aufstockung des Verteidigungshaushaltes nicht zu denken sei. Mit anderen Worten: Die Armee müsse mit dem zurechtkommen, was ihr zugewiesen werde. Die Koalitionsvereinbarung der jetzigen Regierung böte da wenig Spielraum. 

Für den Weißbuchprozeß auf der einen, vor allem für die Bundeswehr auf der anderen Seite heißt das, die Quadratur des Kreises zu versuchen. Dabei gibt es verschiedene Eckpunkte, die genau das so schwer machen: Die Bezüge zur von der Politik betonten besonderen geschichtlichen Rolle Deutschlands (im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit und den Zweiten Weltkrieg), die Sicherung der Landes- und Bündnisverteidigung, die weltweite Fähigkeit zur Eindämmung von Krisen, der Schutz gegen Katastrophen im Inneren und seit neuestem: die Reaktion auf cyber- und hybride Kriegführung. 

Abgesehen von der Landes- und Bündnisverteidigung sind alle Bedrohungen Deutschlands nur in dem politisch vielfach hervorgehobenen „vernetzten Ansatz“ zu bewältigen – also unter Berücksichtigung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer und humanitärer Instrumente. Der allerdings bleibt, das zeigt der Weißbuchprozeß, ein Lippenbekenntnis aller Beteiligten. So herrscht unter Entwicklungshelfern eine tiefe Abneigung dagegen, humanitäre Projekte als Teil militärisch begleiteter Sicherheitspolitik zu betrachten – Uniformierte und Bewaffnete gelten vielen Entwicklungshelfern nicht als Garanten für Sicherheit, sondern als Partei in Konflikten. Gleiches gilt für das Wirtschaftsministerium und das Auswärtige Amt, die beide nicht immer konsequent im Sinne der Sicherheit Deutschlands handeln. 

Auch das neue Weißbuch als Produkt der deutschen Regierung wird in bestimmter Hinsicht bundesdeutscher Tradition treu bleiben: Es wird manche Bedrohung wie etwa den Terrorismus benennen, aber keine wirklichen oder potentiellen Gegner (etwa das in Osteuropa zunehmend aggressiver auftretende Rußland) namhaft machen. Und es wird auch keine geographischen Räume definieren, die als Schwerpunkte deutscher sicherheitspolitischer Interessen zu gelten hätten. Für die Bundeswehr bleibt daher nur, selbst Schwerpunkte zu definieren. Was aber können solche Schwerpunkte sein? Seit Jahren steht im Zentrum der Bundeswehrplanung ein Szenario wie das in Afghanistan. Nicht umsonst werden große Teile der momentan bestimmenden Generals- und Stabsoffizierskreise der Bundeswehr mit dem wenig schmeichelhaften, an mafiöse Zusammenhalte erinnernden Namen „Afghanistan-Connection“ belegt – ein Begriff, der sich sinngemäß auch in bundeswehrinternen Gesprächen findet. 

Und in der Tat: Die gemeinsam gesammelte Einsatz- und Kampferfahrung hat unter betreffenden Kameraden einen Zusammenhalt geschaffen, der nicht zu leugnen ist. Aber dies hat auch durchaus Sinnvolles für die Ausbildung zur Folge gehabt: In Afghanistan zählte nicht das Kämpfen mit allen militärisch verfügbaren Mitteln um jeden Preis, sondern ein abgewogenes Handeln der Truppe, das nicht allein den Sieg über den Gegner, sondern auch vielfältige andere Aspekte in die militärische Operationsführung einfließen ließ. 

Cyber-Angreifer können    nur vermutet werden

Maßgeblich für militärisches Handeln war demnach nicht das Kriegsvölkerrecht, sondern eine Fülle von beschränkenden Anweisungen – die „Rules of Engagement“. Solche Maßstäbe wie vor allem die Verhältnismäßigkeit der Mittel erinnerten eher an polizeiliches denn an militärisches Handeln. Nach solchen Grundsätzen wurden Bundeswehrsoldaten und vor allem militärische Führer in Deutschland über Jahre hinweg ausgebildet. Daß damit der Verlust der Fähigkeit einherging, den klassischen großen Krieg gegen andere ebenbürtige, vielleicht sogar überlegene Streitkräfte zu führen, liegt auf der Hand – wie zahlreiche Bundeswehroffiziere beklagen, die Kompanien, Bataillonen und Brigaden auf Übungsplätzen genau das wieder beibringen sollen. 

War das alles falsch? Die Bundeswehr orientiert sich seit der Ukraine-Krise wieder auf das lange vernachlässigte Thema Landes- und Bündnisverteidigung. Aber wie? Gemäß eines Lagevortrags des im Juli dieses Jahres ausgeschiedenen Inspekteurs des Heeres Bruno Kasdorf kann das deutsche Heer in kurzer Zeit nur Truppen in Bataillonsstärke einsatzbereit melden. Zur gerade in ihrer Entstehung befindlichen Nato-Speersitze steuert die Bundeswehr ein Panzergrenadierbataillon bei – das seine bislang nicht vollständige Ausrüstung durch Abgaben aus zahlreichen anderen Verbänden erhält. Die naheliegende Frage, wo denn der Speer der Speerspitze sei, bleibt unbeantwortet. Es sei denn implizit: amerikanische Nuklearwaffen. 

Besonders schwierig wird es jedoch für die Bundeswehr, wenn es sich um die Themen dreht, die momentan gerade einen „Hype“ in der sicherheitspolitischen Debatte erleben: hybride Kriegführung und solche im Cyber-Raum. Hybride Kriegführung ist ein Angriff, der mit vielfältigen Mitteln (Propaganda, Wirtschaft, Finanzen, Internet, Geheimdienste) erfolgt, nur zum Teil militärisch und in diesem Teil sogar verdeckt. Ein demokratisch, rechtsstaatlich und pluralistisch organisierter Staat kann solche Angriffe gar nicht umsetzen – eine eher zentral gelenkte Maschinerie wie die des „lupenreinen Demokraten“ Wladimir Putin dagegen schon. Die Annexion der Krim hat das bewiesen. 

Für Cyber-Angriffe gilt das genauso: Der Angreifer auf digitale Netze und Infrastruktur kann nur vermutet werden. In beiden Fällen gilt: Die Abwehr von Aggressionen solcher Art wäre eine gesamtstaatliche Aufgabe, und sie wäre eine, bei der die Bundesregierung sich erheblichem Widerstand im Inneren ausgesetzt sähe. Denn schließlich ist ein wichtiges Element hybrider Kriegführung eine auf den gegnerischen Verteidigungswillen zielende Propagandaoffensive in Medien und Internet – Rußland hat dies gerade vorgemacht (man denke nur an die Berichterstattung russischer Staatsmedien oder die konzertierte Tätigkeit von „Internet-trollen“ aus St. Petersburg). 

Genau hier könnte das Weißbuch als Dokument der Regierung einhaken, denn: Wenn ein Angriff mit vielen, nicht nur militärischen Mitteln erfolgt, dann müßte auch die Verteidigung gesamtstaatlich, ja eventuell sogar gesamtgesellschaftlich organisiert werden. Allerdings glauben selbst Optimisten in den Planungsorganisationen der Bundeswehr nicht daran, daß die deutsche Zivilgesellschaft und damit auch die anderen Ressorts der Regierung in dieser Sache mit der Bundeswehr an einem Strang ziehen werden. Der hybride Krieg wird also für die Bundeswehrführung ein Horrorszenario bleiben, das man wohl erkannt und verstanden hat, dessen Durchschlagskraft man aber nicht in die zivile Welt hinein kommunizieren kann. Das jetzt aufzustellende Kommando für den Cyber- und Informationsraum jedenfalls wird die Herausforderungen kaum meistern können.

Zur allgemeinen Unsicherheit über die Natur zukünftiger Herausforderungen kommen noch handfeste Probleme bei der Rüstung: Große Projekte dauern oft unendlich lange, verschlingen viel zuviel Geld und liefern dann nicht das Ergebnis, das die Bundeswehr gerne hätte (JF 16/15). Die Ministerin hat daraufhin – anders als ihre Vorgänger – personell und organisatorisch reagiert: Anfang 2014 entließ sie den verantwortlichen Staatssekretär Stéphane Beemelmans sowie den für Rüstung zuständigen Abteilungsleiter.  

Den Grundmangel freilich kann von der Leyen ohne Zustimmung des Kabinetts und des Bundestages nicht abstellen: zuwenig Geld. Der Weg, die Bundeswehr auf nur wenige Aufgaben zu konzentrieren und sich von bislang wichtigen Fähigkeiten zu verabschieden, wie das die belgische Armee mit dem Verzicht auf Kampfpanzer getan hat, dürfte nur in allergrößter Not gegangen werden. 

Schließlich ist Deutschland nicht Belgien, und ein Verzicht auf bestimmte Fähigkeiten brächte einerseits einen Verlust an Wissen und Fähigkeiten in der Rüstungsindustrie, andererseits könnte er die Bundeswehr noch mehr zu einer Hilfstruppe von umfassend befähigten Streitkräften machen, als sie es ohnehin schon ist. Schließlich handelte es sich in so einem Fall auch um ein Armutszeugnis für den reichsten und bevölkerungsreichsten Staat der EU, dessen Regierung doch immer wieder ihre Bereitschaft zu mehr internationalem Engagement betont. 

Die Zukunft der Bundeswehr wird nicht einmal von den politischen Führungskreisen halbwegs verantwortlich geplant. Noch vor einigen Wochen hieß es: Die Landesverteidigung muß gestärkt werden – aber auf wessen Kosten? Nun heißt es: Die Bundeswehr muß im Inneren helfen, um Einwanderer zu betreuen. Und zukünftig wird es vielleicht heißen: Wir müssen 10.000 Soldaten nach Syrien entsenden, um einen dortigen Friedensvertrag zu überwachen. Damit wären wir auf dem Stand von Afghanistan. Und alle anderen Überlegungen wären hinfällig. Denn die von der Regierung vorgegebene Außen- und Sicherheitspolitik ist nur etwas wert, wenn genug Geld in die Streitkräfte investiert wird. 




Militärausgaben

Investitionen ins Militär in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (Deutschland im Vergleich zu zehn Nato-Staaten mit höherem Anteil) 

Legt man die absoluten Zahlen zugrunde, steht Deutschland laut Untersuchungen des Stockholm International Peace Research Institute mit 48,8 Milliarden Dollar an Ausgaben für das Militär (2013) an siebter Stelle aller Staaten weltweit. Führend sind hier die USA (640 Milliarden Dollar), China (geschätzt 188 Milliarden), Rußland (geschätzt 87,8 Milliarden) und Saudi-Arabien (67 Milliarden).

Foto: Soldaten beim Gelöbnis und während einer militärischen Übung: Verlust der Fähigkeit, einen klassischen großen Krieg zu führen