© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

„Erosion des Rechtsstaats“
Brennpunkt Spielfeld: Drei Tage verdeckt im Migrantenlager / Optimistische Zuwanderer und hilflose Polizei
Billy Six

Massenansturm am Fuße der Alpen; Tausende Einwanderer bewegen sich im Schneckentempo vorwärts durch die Transitzone von Slowenien ins österreichische Spielfeld. Die kleine Gemeinde mit ihren 1.000 Einwohnern steht am Rande des Ausnahmezustands – auch wenn es der Politik mit Mühe gelungen ist, den Weiterzug der Menschen in die Siedlung zu unterbinden. 

Neben dramatischen Szenen bis zur Erschöpfung tätiger Einsatzkräfte gibt es immer wieder auch rührende Augenblicke im Niemandsland: Slowenisches Militär trägt eine kranke Frau und ihr Kind ins Versorgungslager. Am Ende einer der Warteschlangen aus Hunderten Migranten küßt und herzt ein afghanisches Kind seinen Vater. Als es den Arm um seine Schultern legt, könnte man meinen, eine Botschaft herauszulesen: „Ich verzeihe dir.“ 

Tatsächlich liegt eine harte Nacht hinter den ursprünglich bis zu 2.000 Zuwanderern, die aus der slowenischen Zeltstadt oben auf dem Hügel vor der Ortschaft Sentilj entlassen wurden – ohne Zuflucht in der österreichischen Notaufnahme am gesperrten Grenzübergang zu finden. Die beheizten Zelthallen, selbst zusätzlich aufgestellte Kleinzelte mit Paletten-Untergrund sind voll – 5.000 Menschen, die auf ihre Weiterreise warten. 

Kroatien und Slowenien leiten organisiert weiter

Nach Sonnenaufgang stehen Dutzende Busse und Taxen über Hunderte Meter ins Hinterland hinein Schlange, um jene 5.000 bis 13.000 Migranten abzuholen, die seit der Fertigstellung des ungarischen Grenzzauns zu Kroatien von Mitte September bis Mitte Oktober nun jeden Tag durch das Nadelöhr vor dem steirischen Spielfeld strömen. 

Eine Umleitung über andere Übergänge in die Steiermark und nach Kärnten sei nach Auskunft der österreichischen Behörden bisher nur bedingt gelungen. Slowenische Arbeiter in orangefarbenen Jacken haben an der Richtung Wien führenden Schiene eine Sandrampe aufgeschüttet – von hier wandern die Neuankömmlinge zu Fuß in die Transitzone. 

Im Grenzort Dobova zu Kroatien wechselten die Zuwanderer zuvor einfach den Zug  – die Lager hier, noch vor zwei Wochen wegen in Brand gesetzter Zelte und langer Fußmärsche in den Schlagzeilen, sind mittlerweile dauerhaft leer. Somit haben die westlichen Balkanländer die Situation geschaffen, daß faktisch ein direkter Transport von Serbien nach Österreich stattfindet. 

Daß es Abstimmungsprobleme mit den Slowenen gebe, mag Polizei-Pressesprecher Leo Josefus im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT aber nicht bestätigen: „An und für sich ist a gute Kommunikation mit den slowenischen Behörden – und kann nichts Negatives oder Gegenteiliges berichtet werden.“ 

Auch die Aussagen von Einsatzbeamten und Busfahrern, viele Fahrten würden in der Nähe der bayrischen Grenze enden, weist Josefus zurück. „Ganz viele Quartiere sind im Großraum Graz, als auch in der Stadt Graz selbst.“ Die Versorgungslage im Niemandsland entziehe sich seiner Kenntnis – auch von Gefängnis könne nicht gesprochen werden. Trotzdem verunmöglichen Absperrgitter und bewaffnete Armeeangehörige, bei den Slowenen sogar mit Maschinengewehren, jede abweichende Route. 

Somit bietet sich in der Nacht bei Temperaturen von null bis zehn Grad Celsius und Nieselregen die Situation, daß unter dem einzigen Dach einer alten Zollstation ein wahres Menschenknäuel zusammengepfercht zu schlafen versucht – während einige Meter weiter in den Unterkünften immer wieder mal Ärger aufkommt, ein fremder Mann könne in der Nähe von Ehefrauen, Schwestern oder Töchtern liegen. 

In der Umgebung liegen aufgeschlitzte Plastiksäcke umher – Streusalz soll den feuchten Boden trocknen. Auf der Wiese sitzen Hunderte um kleine Lagerfeuer – die Bäume am Hang werden stückweise kahlgeholzt. Wer Zelt, Decke oder Schlafsack dabeihat, kann die Situation gekonnt überbrücken. Anderen bleibt nichts weiter übrig, als die gesamte Nacht wach zu bleiben. 

Konflikte zwischen Syrern und Afghanen

Lange nach Einbruch der Dunkelheit beginnt das slowenische Militär mit einer Notausgabe von Wasserflaschen; die „Ummah Care Foundation“ aus Großbritannien verteilt Halal-Pizzen vom albanisch geführten Geschäft gegenüber, das bewußt ausschließlich auf Käse umgestellt hat. 

Englisch-Lehrer Aysad aus dem nord-syrischen Gouvernement Idlib ist an den glühenden Resten seiner Feuerstelle geblieben: „Sei dir sicher, daß ich in meinem und im Namen aller dieser Leute spreche. Wir brauchen kein Essen, wir brauchen kein Wasser, wir brauchen keine Kleidung – laßt uns einfach nur gehen.“

 Auf gute Fremdsprachenkenntnisse wie die von Aysad zu treffen, ist mittlerweile zur Ausnahme geworden – anders noch als im Sommer, als phasenweise hohe Anteile der männlichen Damaszener Mittelschicht feststellbar waren. Mittlerweile scheint die Unterschicht nach Mitteleuropa zu strömen, dazu zunehmend tatsächlich auch Frauen und Kinder. Die Nachzugswelle. 

Für Aufregung unter den Syrern sorgt, daß andere Volksangehörige immer mehr als Trittbrettfahrer auftreten: Die Gesprächspartner schätzen, daß hier nur noch 10 bis 25 Prozent aus Syrien kommen. Afghanen, Iraker, Libanesen, Iraner, Ägypter, Palästinenser, Algerier, Tunesier, Jordanier, Somalis und Pakistaner würden sich als Syrer ausgeben, um ihre Aufnahmechancen zu erhöhen. Englischlehrer Aysad zeigt sich empört: „Sie versuchen unsere Krise auszubeuten.“

Bei Tage kommt es im spannungsgeladenen Stau, der bereits einige Gitter niedergerissen hat, zum Eklat: Das österreichische Bundesheer fordert die Aufteilung der Völkerschaften – vor allem Afghanen und Syrer sollen getrennt werden, unter denen es verstärkt zu Keilereien gekommen ist. Mit Schildern demonstrieren Hunderte lauthals, die wahren Asylberechtigten zu sein. Und: „Syrer und Iraker sind eins.“ 

Die Polizeileitung distanziert sich von der Trennung. Ebenso wie von der Idee des Militärs, einen „Pandur“-Radpanzer zum Einsatz zu bringen. Österreichs Presse schrieb dazu von Problemen in der Koordination von Polizei und Soldaten. 

Viel bedenklicher erscheint jedoch, was die blau uniformierten Staatsdiener unter vier Augen zu sagen haben: „Angela Merkel hat einen Flashmob ausgelöst – aber fordert nun, daß auch die anderen sich kümmern sollen“, sagt einer. Ein anderer berichtet aus der Schleierfahndung von der Festnahme eines Türken mit Aufenthaltsverbot, „vorbestraft wegen Drogenhandel und Gewalt“. Die Fremdenpolizei-Behörde habe durchgegeben, den Mann auf freien Fuß zu setzen, da die Abschiebung wegen therapeutischer Behandlung ausgesetzt worden sei. 

Polizisten kritisieren „koordinierten Rechtsbruch“

Zwei Beamte im nächtlichen Gespräch auf streng riechendem Untergrund, inmitten der Massen: „Was wir hier machen, ist koordinierter Rechtsbruch – normalerweise gehört die ganze Bundesregierung eingesperrt.“ Inoffiziell scheint in der Polizei große Sorge vor einer Erosion des Rechtsstaates zu herrschen. „Wie können wir einem Bürger noch ernsthaft einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens ausstellen?“ 

Doch zum großen Eklat kommt es nicht als Thomas Kirschner, Hauptredner einer Anti-Zuzugs-Demonstration mitten auf der B67 die Polizisten indirekt auffordert, „ihre Uniformen auszuziehen und sich den Bürgern anzuschließen“. Rund 500 Menschen, darunter in der ersten Reihe zahlreiche Aktivisten der Identitären Bewegung Österreichs, folgten einem Facebook-Aufruf, um unter dem Motto „Für ein besseres Österreich“ gegen die Asylpolitik der Wiener Regierung am Grenzübergang zu demonstrieren. Während der vierstündigen Protestaktion wird der Abtransport von Migranten behindert, die wartenden Taxifahrer als „Schlepper“ lautstark kritisiert.

 Konfrontiert mit den Vorwürfen von Journalisten, es handele sich um einen „Nazi-Aufmarsch“, sagt Kirschner gegenüber der JF: „Man braucht nur irgendwas gegen die Regierung zu sagen, oder irgendwas gegen Asylanten sagen, dann ist man sofort abgestempelt als Nazi.“ Linke Netzseiten werfen dem Grazer vor, als Obmann der „rechtsextremen Kleinstpartei Partei des Volkes“ und Protest-Aktivist gegen Asyl-Zuzug selbst „Faschist“ zu sein. 

Während seiner hochemotionalen Rede betont der in traditioneller Tracht und mit Lenin-Anstecker gekleidete Kirschner, „nichts gegen die Leute zu haben, aber wir wissen ja nicht, ob das Terroristen, IS oder Vergewaltiger sind“. Man müsse den Asylbewerbern helfen – jedoch kontrolliert und bestenfalls in ihrer Heimat. 

 Doch „Babsi“, Caritas-Einsatzleiterin im Lager, wirft den Aktivisten vor, „nur unsere Arbeit schwerer zu machen und die Leute daran zu hindern, weiterzuziehen“. Gerade habe sie mit jungen arabischen Hilfskräften eine syrische Mutter mit ihrer im Gedränge verlorenen 13jährigen Tochter wieder zusammengebracht. Schwierigkeiten mit den Migranten gebe es, „aber über die möchte ich mich nicht so sehr aufregen“, sagt die ortsansässige mehrfache Mutter. Ihr Antrieb: „Die strahlen – wenn die Menschen dich anstrahlen. Ich habe schon Bussis bekommen aus lauter Dankbarkeit.“

Foto: Niemandsland zwischen Slowenien und Österreich: Massenandrang auf die Sperren der Einsatzkräfte (o.) / Polizisten leiten die Abfertigung; Freiwillige vom  „Team Österreich“ bei der Ausgabe von Lebensmittelspenden und wartende Busse an der B 67 bei Spielfeld, die die Zuwanderer weiter gen Norden bringen sollen (r. v. o. n. u.)