© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Pankraz,
Sokrates und der Luxus als Dadaismus

Wie ein Faustschlag aufs Auge aktueller Gemütslagen wirkt das soeben im Suhrkamp-Verlag erschienene Buch „Luxus“ des Jenaer Ästhetikers Lambert Wiesing. Hunger und bitterster Kampf ums nackte Überleben in weiten Teilen der modernen Welt, sich im Zuge der Flüchtlingskrise anbahnende neuartige, heikle Verteilungskämpfe hierzulande  – und gleichzeitig das Buch eines professoralen Stubenhockers, der das Streben nach Luxus feiert als „Widerstand eines autonomen Subjekts gegen die vereinnahmende Herrschaft des Zweckrationalismus und Effizienzdenkens“! Was soll denn das?

Nun, man sollte gelassen bleiben. Immerhin liest sich Wiesing, zumindest streckenweise, wie die ebenso geistreiche wie witzige Ehrenrettung eines an sich honorablen Begriffs, der in der Vergangenheit von allen Seiten derart schlechtgemacht und verteufelt wurde, daß es geradezu zum Himmel schrie. Für die Christen war Luxusstreben von Anfang an eine der sieben Todsünden, die extra zu beichten war und schwerste Bußübungen nach sich zog. Aber auch schon die Priester und großen Tragödienschreiber der Antike wetterten unermüdlich gegen den Luxus in jederlei Form, materiellen wie geistigen, individuellen wie kollektiven.

Freilich ist Wiesing bei weitem nicht der erste, der eine Gegenrede versucht hat, obwohl es der Waschzettel seines Buches nahelegt. „Luxus“ bedeutet dem Wortsinn nach „das Überflüssige“, und schon der ausgezeichnete Georges Bataille (1897–1962) hat in vielen seiner Werke daran erinnert, daß dieses nur scheinbar Überflüssige ein gewaltiger Antrieb jeglichen Lebens sei, der Kern der Fruchtbarkeit und der Vielfalt überhaupt. Einzig der Überfluß ermögliche Selektion, Differenzierung, Anpassung. Wer das ignoriere oder gar ausrotte, verwandle die Welt in einen Friedhof.


Es ist ja nur allzu wahr: Das Leben ist nie und nimmer bloße Funktion, errechenbar und ein für allemal festlegbar. Jede lebendige Form ist nicht nur von puren Notwendigkeiten geprägt, sondern nicht weniger deutlich von gewissen „Nutzlosigkeiten“, gar Kontra-Produktivitäten, bloßen Ornamenten. Der bekannte Schlachtruf des Bauhauses, „Ornament ist Verbrechen“ (Adolf Loos), war selber ein Verbrechen, entsprang nicht genuin ästhetischen Visionen, sondern dem Irrglauben einer Epoche, für die einzig die Funktionalität galt, die „reine Funktionalität“, die allenfalls identisch ist mit maximaler Geldvermehrung auf niedrigstem Lebensniveau.

Daß der Luxus eine erfolgversprechende Methode ist, sich der einzig auf Effizienz und Gewinnvermehrung gerichteten Lebenstendenz der Moderne zu entziehen, ist also keine Entdeckung des Phänomenologen Lambert Wiesing oder der Phänomenologie überhaupt; Pankraz möchte in diesem Kontext besonders auf das epochemachende Werk von Werner Sombart „Luxus und Kapitalismus“ aus dem Jahre 1922 verweisen sowie auf das Buch von Christian Graf von Krockow, das 1989 im Züricher Kreuz-Verlag erschien, „Die Heimkehr zum Luxus. Von der Notwendigkeit des Überflüssigen“.

Aus der Schar der neueren Untersuchungen ragt der von Christine Weder und Maximilian Bergengruen herausgegebene Sammelband „Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne“ (Wallstein-Verlag, Göttingen 2011) hervor. Es geht dort, wie auch in zahlreichen Talkshows und anderen Fernsehsendungen, bevorzugt um das Verhältnis zwischen dem Westen und den armen Bevölkerungsmassen in der sogenannten Dritten Welt.

Eine evangelische Pastorin aus der Schweiz tritt da etwa auf und führt in eiferndem Ton aus, die 200.000 Dialyse-Patienten, die es im „hochentwickelten“ Westeuropa gebe, seien nichts als „luxusgeile Schmarotzer“. Mit dem Geld, das ihre teure Behandlung erfordere, könnten „Millionen von Kindern aus der Dritten Welt“ vom Hungertode errettet werden, und dasselbe gelte für Transplantationen, Herzklappen- und Bypass-Operationen. Diese ganze „Luxusmedizin“ sei ein ethischer Skandal, ein mörderischer Ausbeutungsbetrieb, „errichtet auf den Gebeinen von Millionen verhungerter Kinder aus der Dritten Welt“.


Die Pastorin, das war ganz offensichtlich, kam sich bei ihren Ausführungen selber hochmoralisch vor. Man kann das aber auch ganz anders sehen. Vor dem inneren Auge von Pankraz erschien die Dame momentweise als eine Art weiblicher Scharfrichter, als ein gnadenloses Selektierungsorgan, das an den Betten der „westlichen Wohlstandspatienten“ Visite macht, sich die Unterlagen über die Therapiekosten und die Lebenserwartungen vorlegen läßt und entscheidet: „Bei dem abschalten! Für den auf keinen Fall eine Niere reservieren!“ usw. Ordentlich angst werden kann einem vor soviel Menschlichkeit.

Die Pastorin rechnete vor: „Der gut versicherte westliche Luxus-Patient ist reich, das verhungernde Kind in der Dritten Welt ist arm, bettelarm. Die westlichen Luxus-Patienten sind wenige, die verhungernden Kinder sind viele, allzu viele.“ Mit solchen „Kriterien“ ausgerüstet, glaubte sie, ein Todesurteil über den westlichen Luxusmenschen  fällen zu dürfen. Armut geht in dieser Sicht immer und unter allen Umständen vor Reichtum, wie hart dieser auch erarbeitet sein mag, die große Zahl geht immer und unter allen Umständen über die kleine Zahl, Quantität schlägt Qualität.

So kann man vielleicht rechnen, doch mit Ethos hat dergleichen nichts zu tun. Der Luxus wird unversehens und von unerwarteter Seite gerechtfertigt. Zumindest bei der „Luxusmedizin“, so erkannte wohl jeder Zuschauer, handelt es sich gar nicht um das „luxuriöse“, nicht einmal um das „gute“ Leben , sondern einfach um das Leben, um das nackte Leben. Luxus ist nicht, wie es bei Wiesing heißt, „der Dadaismus des Besitzens“, sondern reiner Existentialismus, reine Überlebenspraxis.

Sokrates, als er einst im alten Athen über einen Markt mit lauter sogenannten Luxusartikeln schlenderte, seufzte vergnügt: „Wie gut es mir geht, daß ich ohne alle diese Sachen glücklich bin!  Wieviel gibt es doch, das ich nicht nötig habe!“