© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

In einem Seitenflügel verbarrikadiert
Das Pendel schlägt zurück: Sebastian Hennig hat ein Buch über seine Pegida-Spaziergänge verfaßt
Thorsten Hinz

Über die montäglichen Pegida-Kundgebungen in Dresden befleißigen Politik und Medien sich einer Sprache, die mehr und mehr an die DDR-Berichterstattung über die „feindlich-negativen Elemente“ im Land erinnert. Mit diesem Terminus wurden die Teilnehmer der Montagsdemonstrationen bezeichnet, die 1989 gegen das SED-Regime aufmuckten.

Die freundlichste Erklärung für die aktuellen Proteste lautet, daß sie sich im „Tal der Ahnungslosen“ abspielten, also eine Angelegenheit von Minderbemittelten seien. Die bösartigeren Interpreten, die klar in der Mehrheit sind, sprechen von Islam-, Ausländer- und gruppenbezogenen Menschenfeinden, von „Nazis“, deren Treiben man genau im Auge behalten müsse. Der Schärfegrad ihrer Rhetorik hat noch kein DDR-Niveau erreicht, doch er nimmt von Woche zu Woche zu.

Der Rhetorik der Macht und dem verzerrten Außenblick setzt der Dresdner Publizist und Maler Sebastian Hennig seine Beobachtungen von der Innenseite der Ereignisse entgegen. Hennig nimmt seit dem 1. Dezember, dem siebten Pegida-Montag, regelmäßig an den Kundgebungen teil, um das Geschehen zu protokollieren.

„Ein Klima der Angst hat sich breitgemacht“ 

Die erste Versammlung am 20. Oktober 2014 zog 350 Teilnehmer an. Anlaß waren die Krawalle zwischen Nationalkurden und radikalen Salafisten im niedersächsischen Celle, deren Ausläufer bis nach Dresden reichten. Sie eröffneten unmittelbar den Ausblick auf eine multiethnische Zukunft, in der fremde Konfliktpotentiale sich im eigenen Haus entladen. Das Vordringen des Islamismus ist „nur das schrillste Symptom des gegenwärtigen politischen Wahnsinns“. Das Euro-Chaos, der angeheizte Konflikt mit Rußland, die Hartz-IV-Gesetze bei gleichzeitiger Duldung der milliardenteuren Zuwanderung haben das Vertrauen zum Staat und zur politischen Klasse erschöpft. Die Medien sind die Claqueure ihres Versagens, und was sich parlamentarische Opposition nennt, möchte die Fehlentwicklungen nicht beenden, sondern beschleunigen.

„Besonders beklemmend ist, daß sich wieder ein Klima der Angst breitgemacht hat“, schreibt Michael Beleites, langjähriger Beauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen, im Vorwort. „Aus purer Angst davor, als ‘Nazi’ beschimpft zu werden, haben wir jahrelang Unsinn und offenkundigen Schwachsinn einfach hingenommen.“ Das „Gefühl der Gleichschaltung der öffentlichen Meinung“ habe sich ausgebreitet und wecke Erinnerungen „an das Ende der DDR: wenn die Sache absurd wird, dann kommt die Wut auf in der Bevölkerung; dann schlägt das Pendel zurück.“

Pegida ist so ein rückschlagendes Pendel. Die Demonstranten haben erkannt, daß kein höheres Wesen, keine Kirche, kein Verfassungsgericht und auch kein Bundespräsident als Retter erscheinen werden. Gerade vom diktaturerfahrenen Joachim Gauck konnte man ein Gespür für die neue Entmündigung und die Sinnentleerung demokratischer Prozeduren und Institutionen erwarten. Doch Gauck ist mit seiner Rolle als Sieger der Geschichte regelrecht verwachsen. In seinem Glück erstarrt, nimmt er nicht wahr, daß die Geschichte weitergegangen ist und nun die Legitimation der Siegerseite in Frage steht. Im alten Blockdenken von 1989/90 befangen, hat der Widerständige von damals eine Metamorphose zum Sprachrohr der Macht vollzogen und diejenigen, die sich dagegen wehren, daß die neue Völkerwanderung in ihrem Vorgarten strandet, als „Dunkeldeutschland“ beschimpft.

Da die berufenen Vertreter es nicht tun, müssen die Menschen selbst für ihre Rechte eintreten. Der von Hennig gewählte Buchtitel „Spaziergänge über den Horizont“ drückt aus, daß Pegida über die institutionellen und geistigen Grenzen der Bundesrepublik hinauszugehen versucht, weil innerhalb keine Problemlösungen mehr möglich sind.

Der Autor erinnert daran, daß in dem vermeintlichen „Tal der Ahnungslosen“ früher als in der übrigen DDR sich breiter öffentlicher Protest regte. Dreht man die Perspektive um, dann erscheint namentlich Westdeutschland als ein Irrenhaus, wo die Patienten die Macht ergriffen und mittels Gummizellen, Elektroschockgeräte und Zwangsjacken die Herrschaft über Besucher und Personal ausüben. Die neuen Länder, insbesondere Sachsen, haben sich in einem Seitenflügel gegen die Herrschaft des Wahnsinns verbarrikadiert.

Der Pegida-Organisator Lutz Bachmann ist zweifellos ein Hallodri und seine Vita fast so bewegt wie die des Obergrünen Joschka Fischer, der es später zum Außenminister brachte. Er erscheint bei Hennig als fähiger Moderator, der darauf achtet, daß kein Redner als Blamierter ab- oder als Scharfmacher auftritt. Überzogene Auftritte neutralisiert er mit der saloppen Bemerkung, das sei „ganz großes Kino“ gewesen. Sein Bedauern darüber, die Rede Akif Pirinçcis nicht früher abgebrochen zu haben, entspricht also seiner Überzeugung und ist kein Ausdruck von Opportunismus. Das Publikum reagiert nachsichtig, freundlich, geduldig. Am wichtigsten ist den Teilnehmern die Erfahrung, mit ihrer kritischen Haltung nicht allein zu sein, sowie das gemeinsame Durchbrechen der Schweigespirale.

Hennig notiert auch die Niederlagen und Rückschläge. Die rührige Mit-organisatorin Kathrin Oertel, statt das drohende Schweigen beizubehalten, das Pegida sich gegenüber der „Lügenpresse“ auferlegt hatte, ging unnötigerweise in eine Talkshow, wo sie von Medienprofis lächerlich gemacht und politisch erledigt wurde.

Demonstranten müssen um ihre Unversehrtheit fürchten

Es ist schwer, im Trommelfeuer der Medien und im Wissen um die gespitzten Ohren der staatlichen Organe, die darauf lauern, „Volksverhetzer“ zu identifizieren, zu einer eigenen Sprache zu finden. Hennig kritisiert nicht nur die konkrete Arbeit der Journalisten, er stellt die „grundsätzliche Frage, warum jemand sich für einen derart jämmerlichen Beruf entscheidet“, in dem man entweder die Glaubwürdigkeit und Selbstachtung oder den Broterwerb verliert.  

Der Autor hat in den westlichen Bundesländern eine regelrechte „Saxophobie“ und persönlichen Rechtfertigungsdruck erlebt. Sogar der an der Berliner Humboldt-Universität tätige Historiker Jörg Baberowski, der zu den wenigen offenen Merkel-Kritikern zählt, sprach kürzlich in einem Interview von einer „Lynchstimmung“, die in Dresden herrsche. Das Hörensagen, auf dem seine Aussage beruht, war vor Monaten und ist auch heute falsch. Die Aggression geht von der anderen Seite aus. In Leipzig, wo Hennig einige Legida-Veranstaltungen besucht hat, müssen die Teilnehmer um ihre Unversehrtheit fürchten. Ein Bekannter des Autors, „das Muster eines zivilen Menschen“, wurde von einem halben Dutzend Vermummter zusammengeschlagen und mit Verdacht auf Schädelbruch ins Krankenhaus eingeliefert. 

Der Autor hält nichts von einer prinzipiellen Gegnerschaft zum Islam und verweist darauf, daß auch Ausländer und sogar Moslems zu den Pegida-Teilnehmern gehören. Erleichtert registriert er, daß der niederländische Politiker Geert Wilders mit dem Versuch, die Kundgebung in eine proisraelische Veranstaltung zu verwandeln und den Islam pauschal als „verbrecherisch“ hinzustellen, bei den Pegida-Teilnehmern  auf Ablehnung stieß. Es gibt einen auffälligen Unterschied zwischen Ost und West. Sympathisanten aus den westlichen Bundesländern sind zumeist und oft unbewußt promamerikanisch eingestellt und über das „Ami, go home!“ in Dresden konsterniert. Die Sachsen haben die Abhängigkeit von der Sowjetunion noch in unguter Erinnerung und glauben auch nicht an die Uneigennützigkeit der neuen Vormacht.

Die Intellektuellen- und Künstler-Szene Dresdens steht Pegida feindlich gegenüber. Sie rekrutiert sich meistenteils aus dem Westen, so daß hier ebenfalls ein Ost-West-Graben deutlich wird. Ausnahmen sind der Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle, Christian Thielemann, der sich für einen Bürgerdialog erklärt hat, und der Politikwissenschaftler Werner Patzelt. Beide sind freilich fest etabliert und schwer angreifbar. Der Karikaturist Peter Willweber hingegen – der auch dieses Buch illustriert hat – verlor nach seinem Auftritt bei Pegida sofort wichtige Aufträge.

Die Eintragungen enden mit dem 36. Abendspaziergang im August 2015. Inzwischen hat die Bewegung ihr einjähriges Jubiläum begangen. Mit der pompösen Formulierung, in Dresden beginne die „Errettung des europäischen Geistes vor der Europäischen Union“, schießt Hennig ein wenig über das Ziel hinaus. Man kann es einfacher sagen: Europa braucht Deutschland, und Deutschland braucht Bewegungen wie Pegida. Warum das so ist, kann man hier nachlesen.

Sebastian Hennig: Pegida. Spaziergänge über den Horizont. Eine Chronik. Arnshaugk Verlag, Neustadt an der Orla 2015, gebunden, 191 Seiten, 15 Euro

Foto: Pegida-Kundgebung am 19. Oktober auf dem Theaterplatz in Dresden: Auch Ausländer gehören dazu