© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Das zweite Reich
Von Bismarcks Kampf um die (klein)deutsche Einheit, von der neuen Reichsgründung, von deren »Freunden« und deren »Feinden« / Folge 6
Karlheinz Weißmann

Für etwa zehn Jahre war Otto von Bismarck der bestgehass-te Mann Deutschlands. Die Zeitungen gifteten gegen ihn, die Karikaturisten übergossen ihn mit Hohn und Spott, man konnte den Eindruck haben, als ob kein anständiger Mensch sich mit ihm abgeben dürfe. Es kam sogar zu Anschlägen auf seine Person, die aber recht glimpflich endeten. Was war der Grund für soviel Ablehnung? Der Grund war, dass Bismarck, nach dem Tod des alten Königs im Jahr 1861, eine Chance erhielt, mit der er kaum noch gerechnet hatte. Denn der neue König, Wilhelm I., sah sich vor einem unlösbaren Problem: Er wollte das preußische Heer modernisieren, aber dafür benötigte er Geld. Nach der neuen Verfassung Preußens musste ihm die Volksvertretung dieses Geld bewilligen, aber die Volksvertretung tat das nicht. Die Sache war vertrackt, da die Verfassung diese Möglichkeit – dass sich König und Volksvertretung nicht einig wurden – gar nicht vorsah. Als Wilhelm I. schon soweit war, von seinem Amt zurückzutreten, kam einer seiner Berater auf den Gedanken, es in dieser verzweifelten Lage doch mit dem »tollen Bismarck« zu versuchen.

Die Idee, dass Bismarck etwas einfallen werde, war gar nicht falsch. Tatsächlich hat er dem König klargemacht, dass es nur die Möglichkeit gebe, ohne die Zustimmung des Parlaments die Maßnahmen zu ergreifen, die er für notwendig halte. Wohl war Wilhelm I. dabei nicht, aber schließlich gab er seine Einwilligung. Bismarck spielte damit ein riskantes Spiel, das wusste er genau. Aber er hoffte, dass die Zeit für ihn arbeite. Längst hatte er da seine alten konservativen Überzeugungen – dass die Dinge im Grunde so bleiben sollten, wie sie waren – beiseite geschoben. Er hatte vor allem begriffen, dass die Einheit Deutschlands erreicht werden musste, wenn die Deutschen nicht auf Dauer ein Spielball fremder Mächte, vor allem Frankreichs, Großbritanniens und Russlands, bleiben sollten. Bismarck wusste, dass auch die führenden Männer der Nationalbewegung das ähnlich sahen, und dass sie Preußen für die einzige Macht hielten, die in der Lage sein würde, die »Deutsche Frage« zu lösen. Weiter war Bismarck wie den Patrioten klar, dass man dieses Ziel nicht ohne die Anwendung von Gewalt erreichen konnte.

1866 war es soweit: Es kam zum Krieg zwischen Preußen und Österreich, auf dessen Seite auch die meisten Staaten des Deutschen Bundes standen. Wenn damals Wetten auf den Ausgang angenommen wurden – und das war sicher der Fall –, dann standen sie sicher gegen Preußen. Aber Preußen siegte. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass an der Spitze der preußischen Armee der größte Feldherr seiner Zeit, Helmuth von Moltke, stand, sondern auch damit, dass Bismarck die Ausrüstung und Bewaffnung über die Köpfe der preußischen Volksvertretung hinweg verbessert hatte. Nach dem Sieg bat Bismarck übrigens nachträglich um Genehmigung der Gelder durch das Parlament und hat sich höflich dafür entschuldigt, es übergangen zu haben. Und das Parlament konnte ihm, dem Sieger, natürlich nichts abschlagen.

Man erkennt daran schon, wie weitsichtig Bismarck handelte. Und Weitsicht lag auch darin, dass er seinen König hinderte, den Triumph auszukosten. Österreich musste nicht einmal Gebiete abtreten, und auch seine süddeutschen Verbündeten – Bayern, Baden, Württemberg – wurden geschont. Ansonsten ließ Bismarck diejenigen, die auf der Seite Österreichs gestanden hatten, durchaus büßen und schloss etwa das Königreich Hannover (ungefähr das heutige Niedersachsen) Preußen an, aber ansonsten beschränkte er sich darauf, den Deutschen  Bund aufzulösen, einen »Norddeutschen Bund«  zu  gründen und mit den süddeutschen Staaten geheime Bündnisverträge zu schließen.

Der Hauptgrund für die Zurückhaltung Bismarcks war, dass er wusste, wie misstrauisch die anderen Großmächte Europas seine Politik verfolgten. Das galt für Russland wie für Großbritannien, aber vor allem für Frankreich. Dass Frankreich jedes Entstehen eines starken Deutschlands zu verhindern suchte, haben  wir  in  den  früheren  Kapiteln gesehen. Und in diese Tradition fügte sich auch ein, was der französische Kaiser Napoleon III. – ein Neffe  des  ersten – nach dem Sieg Preußens über Österreich zu erzwingen suchte. Mit einer Mischung aus Drohung und Lockung wollte er Bismarck dazu bringen, sich der französischen Politik unterzuordnen. Dabei war Bismarck sich längst darüber im klaren, dass ein Konflikt mit Frankreich unvermeidlich war. Im Herbst 1870 erklärten die Franzosen den Krieg. Sie waren dabei so siegessicher, dass es sie vollkommen überraschte, in welchem Tempo – mit modernen Eisenbahnzügen transportiert – die preußischen Truppen in ihr Gebiet vordrangen. Dabei handelte es sich nicht nur um preußische Einheiten, sondern auch um sächsische, bayerische, württembergische, badische, die vier Jahre zuvor noch gegen Preußen gestanden hatten. Jetzt zeigte sich, wie klug es von Bismarck gewesen war, diese Länder nach der Niederlage, die sie erlitten hatten, nicht weiter zu demütigen.

Der Krieg ging erstaunlich schnell zu Ende. Auch in diesem Fall hatte man damit kaum gerechnet. Aber schon nach der Schlacht von Sedan und der Gefangennahme Napoleons III. war das Schicksal Frankreichs besiegelt, wenngleich es den Kampf noch bis zur Verteidigung von Paris tapfer fortsetzte. Wenige Kilometer von der französischen Hauptstadt entfernt, in Versailles, wo sich der Sonnenkönig Ludwig XIV. sein prächtiges Schloss errichtet hatte, schlugen die Deutschen ihr Hauptquartier auf. Und im Spiegelsaal des Schlosses fand am 18. Januar 1871 eines der denkwürdigsten Ereignisse der deutschen Geschichte statt: Hier ließ Bismarck den preußischen König Wilhelm I. durch die anwesenden Fürsten und ihre Vertreter zum »Deutschen Kaiser« ausrufen. Er wollte sich dabei natürlich zunutze machen, wovon am Anfang dieses Buches schon einmal die Rede war: dass sich eine Gemeinschaft immer dann besonders als Gemeinschaft empfindet, wenn sie weiß, gegen wen sie gemeinsam steht. Und der Krieg gegen den »Erbfeind« Frankreich und dann vor allem der in greifbare Nähe gerückte Sieg Deutschlands hatten genau dazu geführt.

Die Begeisterung in Deutschland war unbeschreiblich, und damit ist nicht nur das Kleindeutschland gemeint, sondern auch das Großdeutschland. Obwohl Österreich kurz zuvor in einem Krieg gegen Preußen gestanden hatte, gab es dort eine Vielzahl von Bürgern, die eine Teilnahme auf preußischer Seite gegen Frankreich forderte. Demonstranten mit schwarzrotgoldenen Fahnen marschierten regelmäßig vor der Botschaft des Norddeutschen Bundes auf, und Bismarck musste dem Botschafter ausdrücklich verbieten, auf dem Balkon zu erscheinen, um die Demonstranten zu begrüßen. Er hat auch verboten, dass österreichische Freiwillige sich den deutschen Truppen anschlossen, und sicher hat er missbilligt, dass das Denkmal Friedrichs des Großen, das noch heute auf der Straße Unter den Linden in Berlin steht, mit schwarzrotgoldenen Farben geschmückt war. Wenn, dann hat ihn milder gestimmt, dass daneben auch das neue Schwarz-Weiß-Rot angebracht wurde. Diesen »Dreifarb« hatte Bismarck für den Norddeutschen Bund eingeführt, weil er das Weiß-Schwarz Preußens und das Weiß-Rot in den Fahnen der Hansestädte Hamburg, Bremen, Lübeck miteinander verband, die die Schiffe des Bundes stellten.

Schwarz-Weiß-Rot wurde auch die Nationalflagge des neugegründeten Deutschen Reiches. Selbstverständlich zeigte schon der Name, dass man sich in die Tradition des alten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation stellte, und dasselbe galt für den Titel des Kaisers und das Adlerwappen, aber es gab eben auch Unterschiede. Die Farben waren einer davon, der andere, dass man darauf verzichtete, den neuen Kaiser mit der alten Krone zu krönen. Die lag immer noch in Wien, und Bismarck ging es nicht nur darum, das Verhältnis zu Österreich weiter zu verbessern, er wollte auch das Misstrauen der europäischen Mächte besänftigen, die mit wachsender Sorge beobachteten, wie leicht die Deutschen Frankreich überwältigt hatten und welche Bedeutung das neue Reich zukünftig haben würde. Bismarck tat deshalb alles, ihnen zu versichern, dass Deutschland – abgesehen von Elsass und Lothringen, die Frankreich abtreten musste – keine weiteren Forderungen stelle und keine Vereinigung mit dem Habsburgerstaat bevorstehe.

Diese Linie hat Bismarck auch in den nächsten Jahren weiterverfolgt: Beschwichtigung des Auslands und Wachsamkeit gegen Frankreich, von dem er wusste, dass es jede Gelegenheit für eine »Revanche« – das französische Wort für Rache – nutzen werde. Er konnte sich dabei darauf verlassen, dass Großbritannien im Grunde kein Interesse für die Angelegenheiten auf dem europäischen Kontinent hatte, solange dort nicht eine Übermacht wie die Napoleons entstand. Zu Russland hatte Preußen traditionell gute Beziehungen, die Bismarck noch vertiefte. Es gehörte wie Österreich zu den Verbündeten des Deutschen Reiches.

Die Ruhe in den äußeren Beziehungen erlaubte es Bismarck, seine  Aufmerksamkeit der inneren Ordnung Deutschlands zuzuwenden. Die Verfassung, die das Reich erhielt, war dabei eine merkwürdige Mischung aus konservativen, liberalen und demokratischen Elementen. Konservativ war natürlich die Staatsform der Monarchie, liberal die große Bedeutung der Volksvertretung, des Reichstags, der über alle Gesetze abstimmen konnte, und demokratisch die Tatsache, dass dieses Parlament nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht gewählt wurde.  Das war in Europa ganz ungewöhnlich. Kein anderer Staat von Bedeutung hatte 1871 ein solches Wahlrecht. Aber Bismarck bestand auf dessen Einführung, weil er glaubte, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht das Nationalbewusstsein der Deutschen stärken werde.

Bismarck war noch für fast zwanzig Jahre Regierungschef oder Reichskanzler, wie man damals sagte. Natürlich waren die Zeiten vorbei, in denen er von aller Welt verachtet und gehasst wurde. Jetzt war er der bewunderte »Eiserne Kanzler« und »Schmied des Reiches«. Aber natürlich gab es auch Gegner. Eine Gruppe entstand unter den deutschen Katholiken. Sie bildeten eine Gruppe, die sich durch das Ausscheiden Österreichs aus dem Reich und die Tatsache, dass Preußen ein stark evangelisch geprägtes Land war, zurückgesetzt fühlte. Ihre Partei – das Zentrum – ging deshalb im ersten Jahrzehnt des neuen Reiches in die Opposition, das heißt, sie verweigerte der Regierung die Unterstützung. Bismarck wusste, dass dahinter die einflussreiche katholische Kirche stand, und versuchte diese in die Knie zu zwingen. Er, der gemeinhin als Konservativer galt, wandte sich gegen eine christliche Kirche und erließ scharfe Gesetze, mit denen die Macht der Kirche immer weiter beschränkt werden sollte. Wirklichen Erfolg hatte dieser »Kulturkampf« nicht und wurde schließlich ohne Ergebnis abgebrochen. Nach einer kurzen Frist erklärte Bismarck die »Reichsfeinde« im Zentrum zu »Reichsfreunden« und beteiligte sie sogar an der Regierung.

Anders war das mit der zweiten Gruppe von »Reichsfeinden«: den Sozialdemokraten oder Sozialisten. Sie hatten sich im 19. Jahrhundert als dritte politische Kraft neben Liberalen und Konservativen gebildet; sie waren jetzt die »Linke«, die Liberalen bildeten die »Mitte«, die Konservativen die »Rechte« nach den Plätzen, die ihre Abgeordneten im Parlament einnahmen. Der Grund dafür war eine große Veränderung, auf die bisher noch gar nicht eingegangen wurde. Denn neben den politischen Revolutionen dieser Zeit gab es noch eine andere: die »Industrielle Revolution«. Damit bezeichnet man die Einführung von Maschinenarbeit, die möglich wurde, nachdem am Ende des 18. Jahrhunderts die Bedeutung von Dampfkraft für den Antrieb von allen möglichen Geräten – Pumpen, Webstühlen, Eisenbahnen – entdeckt worden war. Die Maschinenarbeit ersetzte die Handarbeit. Das machte viele Handwerker, aber auch Bauern arbeitslos. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stark an, was nicht nur an der verbesserten Ernährung, sondern auch an der medizinischen Versorgung vor allem der Kinder lag. Die Folge war ein großer Überschuss an Arbeitskräften. Selbstverständlich fanden sie in den Fabriken, die mit der Industriellen Revolution entstanden, Arbeitsplätze, aber doch nicht alle. Und die Verhältnisse an den Arbeitsplätzen waren oft miserabel: Schmutz, Gestank, fehlendes Licht, Arbeitszeiten von sechzig Stunden und mehr in der Woche, Einstellung von Frauen und Kindern als billigere Arbeitskräfte, die für einen Bruchteil des Lohns arbeiteten, den ein erwachsener Mann bekam.

Es gab zwar einzelne Unternehmer, die auf diese Not reagierten und aus eigenem Antrieb zu helfen suchten. Außerdem gingen die Kirchen daran, etwas für die Arbeiter zu tun, und in Deutschland führte Bismarck Gesetze ein, die Kranken- und Unfallversicherungen für jedermann schufen. Etwas ähnliches gab es in keinem anderen Land der Welt (in manchen, etwa den USA, gibt es so etwas bis heute nicht). Allerdings entschloss sich Bismarck dazu erst unter dem Druck, der dadurch entstand, dass die Sozialdemokraten bei den Wahlen immer mehr Stimmen bekamen.

Die  Sozialdemokraten  verstanden  sich  als  »Arbeiterbewegung« und hatten dem Staat mehr als einmal den Krieg erklärt: Ihre Führer erklärten offen, dass sie die Monarchie beseitigen und eine Republik einführen wollten, dass man den Wohlhabenden ihren Besitz wegnehmen und zukünftig die Wirtschaft durch den Staat – den sozialistischen Staat natürlich – organisieren sollte, der darauf zu achten hatte, dass niemals wieder in der Hand einzelner große Vermögen entstanden. Dieses Programm wurde von vielen Arbeitern unterstützt, die vielleicht keine Revolution wollten, aber doch ein Ende ihres Elends. Wenn Bismarck ihnen entgegenkam mit den Sozialgesetzen, hat das ihr Misstrauen gegen den neuen Staat sowenig beseitigt wie das von Bismarck ausgesprochene Verbot der Sozialdemokratischen Partei. Ihre Kandidaten durften bei den Wahlen weiter antreten und bekamen die Stimmen der Arbeiter. Schließlich musste Bismarck einsehen, dass er auch auf diesem Gebiet gescheitert war. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass sich die Lebenssituation der Arbeiter Stück für Stück verbessert hat und die Sozialdemokratie von ihren radikalen Zielen abließ (obwohl sie nach wie vor in ihrem Programm standen).

Trotzdem ist unbestreitbar, dass Bismarck größere Erfolge auf dem Gebiet der Außenpolitik als auf dem der Innenpolitik errang. Dafür bewunderten ihn die Deutschen – mit Recht – und natürlich für die Reichsgründung selbst. Als er 1890 von seinem Amt zurücktrat, schlossen sich Bürger zusammen und begannen damit, ganz Deutschland mit Bismarcktürmen, Bismarcksäulen, Bismarcksteinen, Bismarckstatuen zu überziehen. Es gibt wohl keinen Deutschen, dem jemals so viele Denkmäler gewidmet worden sind wie ihm. Wahrscheinlich findet sich auch eins in Deiner Nähe.