© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Der Flaneur
Selbstbewußt trotz Handikap
Tobias Dahlbrügge

Mein allmorgendlicher Weg führt an einer umzäunten Koppel vorbei. Oft stehen Pferde darauf. Darum stecke ich mir manchmal ein paar Apfelstücke in die Tasche oder Möhren, die ich in zwei Hälften breche.

Die beiden Hengste sind neu, sie grasen erst seit ein paar Tagen hier. Ein schwarzer und ein brauner mit einer hellen Zeichnung auf der Stirn. „Laterne“ sagt man dazu. Er ließ sich leicht mit Schnalzlauten anlocken und kam gleich neugierig angetrabt. Der Rappe dagegen war zwar aufmerksam interessiert, blieb aber skeptisch in einiger Entfernung stehen.

Pferde lernen schnell. Der Braune hat sich das Karottenbonbon gemerkt. Als er mich am nächsten Morgen sieht, kommt er sofort, in Erwartung eines Leckerlis. Sein Kumpel zögert zunächst, dann nähert er sich doch.

Wenn das Pferd erzählen könnte. Was mag passiert sein? Im Kampf mit Rivalen verletzt?

Ich halte die flachen Hände mit den Apfelvierteln hin. Die Pferde kauen. Ich kraule ihre Ohren und tätschle ihre Wangen. Ich mag ihren Geruch so gerne.

Der Schwarze dreht den Kopf – und ich schaudere entsetzt zurück! Anstelle des Auges gähnt ein kinderfaustgroßes schwarzes Loch! Ich bin geschockt von dem gruseligen Anblick.

Wenn das Pferd erzählen könnte. Was mag ihm passiert sein? Operation nach Krankheit? Im Kampf mit Rivalen verletzt? Ein Unfall? Oder einer von diesen perversen Pferdehassern, von denen man manchmal liest?

Wie kommt er mit der Sehbehinderung wohl zurecht? Sein Hengst-Selbstbewußtsein scheint es allerdings nicht zu beeinträchtigen. Er reklamiert den Leckerbissen robust für sich allein, indem er den Braunen rabiat zur Seite schubst und fordernd an meiner Jackentasche schnuppert.

Jetzt wirkt er wie ein alter Pirat. ‘Nimm’s leicht’, denke ich und stelle mir vor, daß eine Augenklappe immer noch besser wäre als ein Holzbein.