© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Die Meuterei aus der Aktentasche
Asylkrise I: Ein Antrag des CDU-Abgeodneten Bergner könnte Merkel stürzen
Paul Rosen

Die vielen Irrlichter, die Berlin derzeit mit unnatürlich hellem Licht ausleuchten, werden schnell verglühen. Anbrechen wird die Merkeldämmerung. Wenn es wieder hell sein wird, könnte ein neuer Kanzler im Amt sein oder die Ankündigung von Neuwahlen auf dem Gabentisch der Bundesbürger liegen. 

Die Ära von Angela Merkel neigt sich dem Ende entgegen. Wenn sie in der Flüchtlingsfrage ihrer Fraktion entgegenkommen und beidrehen sollte, würde sie ihre Position ins Gegenteil rücken. Damit wäre sie wegen Unglaubwürdigkeit erledigt, kurz vor oder nach ihrem zehnjährigen Jubiläum im Kanzleramt. Bleibt sie bei ihrer schon gewohnt alternativlosen Haltung, wird sie vom immer stärker werdenden Sturm in ihrer Fraktion hinweggefegt werden. 

Es sind nicht mehr allein die wenigen stadtbekannten Nörgler aus dem Unions-Mittelstand wie Christian von Stetten, die sich wankelmütig wie ein biegsamer Weidenstrauch im Winde drehen. Hatte von Stetten erst mit Aufstand gedroht, um dann nach der vermeintlichen Asyl-Einigung zwischen CDU, SPD und CSU wieder kleinlaut beizudrehen, so verschärfte er jetzt (nach Rückkehr von einem Wochenende an der Basis) den Ton erneut: „Wenn wir jetzt nicht entschlossen handeln, begehen wir einen Jahrhundertfehler, den wir nicht mehr korrigieren können.“ 

Von Stetten ist nicht das Problem der Kanzlerin. Ein Anruf „von oben“ reicht, und er knickt ein. Merkels Problem sind jene tapferen einfachen Abgeordneten, die seit dem Spätsommer vom eigenen Wahlvolk daheim jeden Tag stärker verbal verdroschen werden für die Flüchtlingspolitik, die in Berlin gemacht wird. Solange sie Hoffnungen in Merkel setzen konnten, sie könne für ein gescheites Wahlergebnis sorgen und das eigene Mandat sichern, hielten diese Truppen tapfer aus. Jetzt trauen sie sich freitags kaum noch nach Hause; Landräte und Bürgermeister sitzen ihnen sofort im Genick. Überall ist zu hören: „Wir schaffen das nicht.“ Und wenn die Alternative für Deutschland (AfD) bei zehn und die untote FDP bei sechs Prozent notieren, was viele Mandate kosten dürfte, dann begehren diese Abgeordneten auf. 

Christoph Bergner (66) ist so ein Mann. Der Agraringenieur aus Sachsen-Anhalt dient Partei und Fraktion treu in den Ausschüssen. Nie gab Bergner  regierungskritische Interviews. In seiner Aktentasche würde man ein Butterbrot mit Wurst, aber nicht den Dolch des Brutus vermuten. 

Und doch hat Bergner einen Antrag in der Tasche, den er der Fraktion vorlegen will und der in letzter Konsequenz das Ende der Ära Merkel schon in der nächsten oder übernächsten Woche bedeuten könnte: „Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Entscheidung, syrischen Flüchtlingen subsidiären Schutz zu gewähren und bedauert die vorläufige Rücknahme aus Rücksicht auf den Koalitionspartner SPD.“ Ein Beschluß des Antrags wäre ein Doppelstich ins Herz der Kanzlerin und ihres Vizekanzlers Sigmar Gabriel (SPD).

Der Antrag nimmt Stellung zu einem der aberwitzigsten Vorgänge deutscher Regierungspolitik. Am Donnerstag vor einer Woche einigten sich die drei Koalitionsparteien auf Registrierungszentren für einreisende Ausländer, was allgemein als Niederlage für den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehfoer (CSU) verstanden wurde, der sich mit seiner Forderung nach grenznahen Transitzonen nicht hatte durchsetzen können. Die SPD freute sich, daß sie die Unionsschwestern hatte auseinanderdividieren können.

Dann kam Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ins Spiel. Offiziell von Merkel kaltgestellt und zu wichtigen Gesprächen schon gar nicht mehr hinzugezogen, erinnerte sich der als „Aktendeckel“ verspottete Politiker preußischer Tugenden wie Pflicht und Verantwortung. Er ließ anweisen, alle Flüchtlinge aus Syrien – und daher wollen angeblich die meisten stammen – sollten nur noch subsidiären Status haben und auch kein Recht auf Familiennachzug. Daß einige Flüchtlinge nur subsidiären Schutz haben sollten, hatten die Parteivorsitzenden beschlossen. Daß Hunderttausende Syrer zu dieser Kategorie zählen sollten, war ausdrücklich nicht vereinbart, wurde aber von de Maizière so angeordnet und auch verteidigt: „Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch, wir können nicht noch ein Vielfaches an Familienmitgliedern aufnehmen.“ 

Die SPD tobte. Gabriel bestand auf Rücknahme von de Maizières Weisung, was vom Kanzleramt auch angeordnet wurde. Der SPD-Chef zeigte sich dann zufrieden: „Damit, finde ich, ist die Maßnahme erledigt.“ Der Merkel-Vertraute und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) wollte – obwohl Flüchtlingskoordinator – nichts von de Maizières Vorpreschen gewußt haben: „Ich persönlich habe es nicht gewußt, das ist richtig.“ Er stellte de Maizière damit in den Senkel. 

Aber Altmaier wußte offenbar auch nicht, daß Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sich demonstrativ auf die Seite des Innenministers schlagen würde – genauso wie Seehofer. Schäuble rammte in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ Pflöcke ein. Deutschlands Aufnahmekapazität sei nicht unbegrenzt, stellte Schäuble fest und nahm de Maizière für seine „notwendige Entscheidung“ in Schutz, obwohl der Innenminister längst zurückgepfiffen worden war. Das sind Illoyalitäten gegen Merkel in Serie, auch wenn sie versichern läßt, de Maizière genieße ihr Vertrauen. Wenn sie das zehnjährige Amtsjubiläum noch feiern will, müßte sie das Kabinett umbilden, Schäuble und de Maizière entlassen. Läßt sie die beiden am Kabinettstisch, müßten Gabriel und die SPD-Minister gehen. 

Jetzt wird der tiefere Sinn klar, warum Gabriel sich schnell zum Kanzlerkandidaten erhob und eine neue Wahlkampfmanagerin in die SPD-Zentrale holte: weil er in Kürze mit seinem Einsatz als Kanzlerkandidat rechnet.