© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

„In Afghanistan prüfen Elektriker den Strom mit der Hand“
Asylkrise II: Eine Konferenz im Bundesinnenministerium räumt endgültig mit der Legende auf, Flüchtlinge könnten den deutschen Fachkräftemangel lindern
Marcus Schmidt

Plötzlich geht ein Raunen durch den Saal. Schnell hebt Hans Peter Wollseifer die Hände, will beschwichtigen. „Ich übertreibe etwas“, sagt der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks im Konferenzsaal des Bundesinnenministeriums in Berlin. Anlaß für den kurzen Aufruhr war ein Vergleich, mit dem Wollseifer auf das unterschiedliche Ausbildungsniveau von Elektrikern in Deutschland und Afghanistan hinweisen wollte. Während sich diese hierzulande mit elektronischen Haussteuerungen („Smart Home“) beschäftigten, „prüfen die in Afghanistan mit der Hand, ob Strom in einer Leitung ist“, sagte Wollseifer. 

Auf hemdsärmelige Art hatte der Handwerkspräsident damit den Finger in die Wunde gelegt: Die lange von vielen Politikern und Medien verbreitete Behauptung, durch den aktuellen Zustrom von Asylbewerbern werde der Fachkräftemangel in Deutschland gelindert, ist falsch. „Auf kurze Sicht werden die Flüchtlinge den Fachkräftemangel nicht beheben“, sagte denn auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der auf der Konferenz „Fachkräftezuwanderung und Flüchtlinge – Geht das zusammen?“ in der vergangenen Woche wenige Meter von Wollseifer entfernt saß. Derzeit gebe es keine belastbaren Angaben über die Qualifikation der Einwanderer, sondern lediglich Anhaltspunkte, sagte de Maizière zur Begründung. Er warnte daher davor, trotz des anhaltenden Zuzugs von Asylbewerbern die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland einzustellen. Vorsichtige Kritik an dieser Forderung, die auf eine zusätzliche Einwanderung hinausläuft, kam ausgerechnet von der Parlamentarischen Staatssekretärin im Arbeitsministerium, Anette Kramme (SPD). Sie verwies darauf, daß eine Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen sei. „Ob wir diese Akzeptanz in der Bevölkerung derzeit haben, ist eine andere Frage“, sagte Kramme.

Die Konferenz machte deutlich, daß derzeit nicht nur kaum Fachkräfte kommen, sondern daß schon die berufliche Qualifizierung vieler Asylbewerber das deutsche Bildungssystem vor große Herausforderungen stellen wird. „Was machen wir mit dem 35jährigen, der Analphabet ist. Schicken wir ihn in die Schule?“ fragte beispielsweise Kramme. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, deutete an, wohin die Reise gehen könnte: „Wir müssen unsere eigenen Maßstäbe überprüfen, das ist eine große Chance für uns“, sagte er. 

Auf Kritik stießen indes die Pläne einiger Bundesländer, die Voraussetzungen für ein Studium von Flüchtlingen an einer Hochschule zu senken. „Dadurch entsteht die reale Gefahr, eine ganze Generation von Hochschulabbrechern zu produzieren“, sagte Christine Langenfeld vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Die Bildungsstandards in Deutschland dürften auf keinen Fall gesenkt werden, warnte sie.