© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Millionen, nicht Tausende wollen kommen
Migration: Kriege, Klimawandel und wirtschaftliche Anreize setzen eine Welle von Süd nach Nord in Bewegung, die kaum zu stoppen ist
Marc Zoellner

Dadaab ist ein Alptraum von einer Siedlung. Schier endlos reiht sich in der spärlich von Dornbüschen und einzelnen Akazien bewachsenen Steppe Zeltblock an Zeltblock. Die schachbrettartig angeordneten Straßen bestehen aus nichts als dem ausgetretenem Lehm des verdorrten Bodens. In Dadaab existieren keine Einkaufsmeilen, keine Freizeitgelände – und erst recht keine Jobs in Fabriken, Büros oder der Landwirtschaft.

Fast eine halbe Million Einwohner zählte Dadaab noch bis vor zwei Jahren. Nach Nairobi und Mombasa galt die Siedlung damit als drittgrößte Stadt des ostafrikanischen Kenia. Ein beachtliches Wachstum angesichts der Umstände, daß dieser Ort im kommenden Jahr auf sein gerade erst 25. Gründungsjubiläum zurückblickt.

UN und EU korrigieren Zahlen nach oben

Denn Dadaab ist keine Stadt wie jede andere: Hier befindet sich das größte Flüchtlingscamp der Welt; von Somalis bewohnt, die vor den islamistischen Milizen ihres Heimatlandes geflohen sind. Zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 18 Jahre alt, oftmals selbst im Camp geboren. Die Arbeitslosigkeit beträgt einhundert Prozent, die Zukunftsperspektiven hingegen tendieren gerade bei den jugendlichen Einwohnern des Camps gegen null.

Doch Dadaab ist keine Ausnahme von der Regel. Gleich sieben der zehn bevölkertsten Lager der Erde sind in Afrika gelegen. Beispielsweise in Mauretanien, wohin sich seit dem Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs des Azawad vom Rest von Mali im April 2012 über 150.000 Tuareg vor den Racheaktionen der Regierungsarmee in relative Sicherheit gerettet hatten. Auch das Wüstencamp Mbera stellt seitdem nach der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott die zweitgrößte Siedlung des bettelarmen Saharastaates dar.

Fast 60 Millionen Menschen befanden sich einem diesen Sommer von den Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht zufolge bereits bis Ende 2014 auf der Flucht – so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Über 14 Millionen davon kamen allein im vergangenen Jahr hinzu. Bedingt durch die ausufernden Kriege und Konflikte in Syrien, im Irak, in Afghanistan sowie im Jemen dürften diese Zahlen für 2015 noch einmal sprunghaft ansteigen. Hingegen gelang es im vergangenen Jahr, gerade einmal 127.000 Flüchtlinge in ihrer Heimat wieder anzusiedeln.

Betroffen von dieser humanitären Katastrophe ist hingegen nicht nur der afrikanische Kontinent. Auch Europa sieht sich derzeit der größten Flüchtlingsbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegenüber. Über 5.000 Menschen, befürchtet der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), werden allein diesen Winter ihren Weg durch die Türkei über die griechische Ägäis sowie Bulgarien nach Europa suchen – jeden einzelnen Tag. „Wenn dieser Fall eintreten wird“, warnte kürzlich William Spindler, der Sprecher des UNHCR im Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, „sehen wir uns weiteren 600.000 Flüchtlingen und Migranten zwischen diesem November und nächstem Februar für Europa gegenüber.“

Eine stete Korrektur der Zahlen und Prognosen emotionalisiert die Debatte um die Aufnahmefähigkeit der EU-Länder bezüglich dieser Menschen. Ging die Europäische Kommission in diesem Jahr noch von gut einer Million Migranten nach Europa aus, erwartet sie bis 2017 bereits das Dreifache an Flüchtlingen.  „Wir sprechen über Millionen potentieller Flüchtlinge, die Europa derzeit zu erreichen versuchen, nicht über Tausende“, twitterte EU-Ratspräsident Donald Tusk bereits Ende September lapidar.

Denn die Beweggründe, sein Heimatland zu verlassen und nach Europa, Australien oder auch Nordamerika auszuwandern, werden von Jahr zu Jahr vielfältiger. Zwar stammt das Gros der Migranten noch immer aus den bekannten Krisengebieten bewaffneter Auseinandersetzungen. Ökonomische wie ökologische Überlegungen könnten diese allerdings langfristig aus der Majorität der Fliehenden verdrängen.

„Denn auch der Klimawandel wühlt die Gesellschaften Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens auf“, mahnte Anfang November der renommierte Journalist Rod Nordland in der New York Times. „Syrien befand sich im Griff einer anhaltenden Dürre, als der Krieg ausbrach, und große Gebiete Afrikas südlich der Sahara werden unbewohnbar. Mit dem steigenden Meeresspiegel könnte ein einziger Taifun Millionen von Bangladeschis aus dem Golf von Bengalen aus ihrer Heimat der flachen Küstengebiete vertreiben und auch dieses Land unbewohnbar hinterlassen.“

Überhaupt nimmt der Wunsch, sein Heimatland zu verlassen, weltweit beständig zu, wie eine jüngst veröffentlichte Studie des Washingtoner Meinungsforschungsinstituts Gallup bestätigt. Über 450.000 Bürger aus 151 Staaten hatten die Sozialwissenschaftler zwischen 2009 und 2011 für ihre Auswertung befragt. 

640 Millionen sitzen auf gepackten Koffern 

Die Gallup-Ergebnisse  überraschen wenig: Rund 13 Prozent der Erdbevölkerung, hochgerechnet etwa 640 Millionen Menschen, bestätigten, ihr Land gern auf immer verlassen zu wollen. In Westafrika sind es sogar zwei Drittel; in den karibischen Staaten gut ein Viertel der Bevölkerung. Im vom Krieg gegen die Terrororganisation Boko Haram sowie die Separatisten des Deltas zerrütteten Vielvölkerstaat Nigeria sehnen sich sogar ganze 40 Prozent nach einem biographischen Neubeginn in den Industrienationen.

Mit vier Prozent Präferenz – Mehrfachnennungen waren ausgeschlossen – befindet sich neben Frankreich, Italien und Spanien auch Deutschland unter den „Top Ten“ der Wunschheimaten der Auswanderungswilligen. Auch das sind, hochgerechnet, etwa 26 Millionen Menschen. 

Klarer Favorit als klassisches Einwanderungsland sind hingegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Jeder vierte Auswanderungswillige, also etwa 150 Millionen Menschen, würde seine Zelte am ehesten in Nordamerika neu aufschlagen wollen.

„Ich glaube nicht, daß diese Welle noch gestoppt werden kann“, erklärte die serbische Soziologin Sonja Licht vom „International Center for Democratic Transition“ kürzlich im Interview mit der New York Times. „Der Norden des Globus muß darauf vorbereitet sein, daß sich der Süden des Globus in Bewegung gesetzt hat – der gesamte Süden des Globus. Das stellt nicht nur ein Problem für Europa dar, sondern für die gesamte Welt.“