© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Politik war für ihn der Ernstfall
Nachruf: Am Dienstag ist Altkanzler Helmut Schmidt mit 96 Jahren in Hamburg verstorben
Thorsten Hinz

So wird man sich an Helmut Schmidt erinnern: Den Scheitel scharf gezogen, die Bewegungen knapp und markant („zackig“), der Griff nach der Zigarette energisch, die Sprache auch im hohen Alter klar und präzise. Je länger sein Abschied von der aktiven Politik zurücklag, um so größer sein Bemühen, dem Ideal einer staatsmännischen Erscheinung – nun als elder statesman – zu entsprechen und den Eindruck von Verantwortungsgefühl, Kompetenz und Urteilskraft, gepaart mit der Weisheit des Alters, zu vermitteln.

Der Altkanzler war Mitte September wegen eines Arterienverschlusses im rechten Bein auf der Intensivstation der Hamburger Asklepios-Klinik St. Georg behandelt worden. Von der Erkrankung erholte er sich aber nach seiner Entlassung auch daheim in seinem Hamburger Wohnhaus offenbar nicht mehr vollständig. Sein Zustand verschlechterte sich rapide. Am vergangenen Wochenende habe er hohes Fieber bekommen und sei nicht mehr ansprechbar gewesen, ließ sein Arzt die Medien wissen. Der 96jährige Helmut Schmidt starb am Dienstag.

Schmidt war ein Staatsschauspieler von hohen Graden, der seine Außenwirkung sorgsam inszenierte. Doch die Inszenierung konnte nur überzeugen, weil sie auf Substanz beruhte und diese zu äußerlicher Geltung brachte. 

Ein Vorgesetzter urteilte 1940 über den damals 21jährigen Offiziersanwärter: „Gute Erscheinung. Sehr straffes, sicheres und gewandtes Auftreten. Geistig und körperlich hervorragend veranlagt – seine Veranlagung, sein Fleiß und sein fester Wille lassen ihn hervorragende Leistungen zeigen. Infolge seiner Veranlagung und Leistungen neigt er jedoch zu einer gewissen Überheblichkeit.“ Im letzten Kriegsjahr ergänzte ein Untergebener: „Alles mit einem Tempo, das einem zuerst den Atem verschlägt. Er kümmert sich um alles, verlangt viel von sich und den anderen.“ Die deutsche Wehrmacht war, trotz ihrer tragischen Verstrickungen im Zweiten Weltkrieg, zur Reifung der Persönlichkeit wohl doch nicht die schlechteste Schule.

Das Publikum schätzte an Schmidt die Eigenschaften des charismatischen, dabei ethisch grundierten Regenten. Demokratie hin oder her: So wünschen die Menschen sich ihren Staatslenker, damit sie ruhig schlafen können. Der ehemalige Hamburger Innensenator, SPD-Fraktionschef im Bundestag, Verteidigungs-, Finanz- und Superminister, der von 1974 bis 1982 als Bundeskanzler amtierte, stellt für viele Deutsche das Gegenbild zur aktuellen politischen Klasse dar. Das gilt erst recht in den gegenwärtigen Chaostagen einer kopflosen Regierung.

Schmidt, geboren am 23. Dezember 1918, war nach den Rassengesetzen des Dritten Reiches ein „Vierteljude“. Der Familie gelang es, den vermeintlichen Makel zu vertuschen. Von 1939 bis 1945 war er Soldat, zuletzt im Rang eines Oberleutnants. Im Winter 1941/42 erlitt er an der Ostfront leichte Erfrierungen, im März 1945 wurde er an der Westfront verwundet. Er studierte Volks- und Staatswissenschaft in Hamburg, seine Diplomarbeit verfaßte er 1949 bei Karl Schiller über „Die Währungsreform in Japan und Deutschland im Vergleich“. Schmidt hatte den Anspruch, die Politik theoretisch zu durchdringen und zu begründen, sei es als Verteidigungs-, Finanz- und Wirtschaftsexperte. Seine Kompetenz in Finanz- und Militärfragen wurde international geschätzt.

Schmidt verstand sich als streng rationaler, als Realpolitiker. Er war zu strategischem Denken befähigt, was bei deutschen Politikern selten ist und den heutigen gänzlich abgeht. Enge Beziehungen zu den USA waren für ihn die Überlebensgarantie für Westeuropa im Kalten Krieg. Der 1979 gefaßte Nato-Doppelbeschluß – zuerst Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion, im Falle des Scheiterns die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa – ging auf ihn zurück. Er sollte verhindern, daß nach der Modernisierung der sowjetischen Mittelstreckenraketen ein Risikogefälle zwischen den USA und den europäischen Verbündeten entstand, das die Nato-Partner voneinander entkoppelte und Moskau die Erpressung Westeuropas ermöglichte. Als US-Satrap verstand er sich nicht. 1984 meinte er, daß US-Truppen nach Europa „eigentlich nicht hingehören“. In den 2000er Jahren warnte er vor den Anmaßungen des „Neuen Rom“, das der Welt sein Gesetz diktieren wolle. Seine Kritik am angelsächsisch geprägten globalen Finanzsystem war lange vor Ausbruch der Finanzkrise 2008 vernehmbar.

Ihm wurde verschiedentlich mangelndes Engagement in der deutschen Frage vorgeworfen. Richtig ist, daß er von aufgeregten Kampagnen nichts hielt. Auf die Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 aber reagierte er auch deshalb zurückhaltend, weil er als Ergebnis westlicher Boykottmaßnahmen die Zerstörung des mühsam ausgehandelten innerdeutschen Vertragswerks fürchtete. Über die Wiedervereinigung schrieb Schmidt rückblickend: „Mir ist dabei immer eine Skulptur von Ernst Barlach im Bewußtsein gewesen: Zwei Menschen begegnen sich, der eine gebeugt, kummervoll, aber mit Hoffnung dem anderen ins Antlitz schauend, der ihn aufrecht und ernst umarmt – ein Bild der Heimkehr nach langer Irrfahrt. Wenn der Bruder, der zu Unrecht lange Jahrzehnte im Gefängnis war, schließlich vor unserer Tür steht, dann bittet man ihn herein, man teilt brüderlich mit ihm – und fragt nicht nach den Kosten. Freiheit und Brüderlichkeit gehören zusammen. Seit dem 9. November 1989 war kein Fehler schlimmer als die Unterlassung des Appells an unsere Brüderlichkeit und Opferbereitschaft.“ Der solche herzergreifenden Worte fand, kann die deutsche Frage niemals nur geschäftsmäßig betrachtet haben.

Seine größte Leistung war wohl die Standhaftigkeit 1977 im „Deutschen Herbst“, als er den Erpressungsversuchen der RAF trotzte und bewies, daß die Bundesrepublik das Zeug zu einem wirklichen Staat hatte, der sich im Ausnahmezustand souverän zu behaupten wußte. Dieses Schmidt-Erbe wird von Merkel eben endgültig verspielt. Der Schuld, die er auf sich lud – der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer wurde ermordet –, war er sich bewußt. 

Ein Eiserner Kanzler war er dennoch nicht, und Verklärungen hat er weder nötig noch verdient. Auf Erpressungen des Auslands, die sich auf eine „deutsche Schuld“ bezogen, zeigte er sich nachgiebig. Das führte in den 1970er Jahren zu schlampig ausgehandelten Kreditabkommen, die am Ende weder den damaligen Ostblockstaaten noch Deutschland etwas nützten. Die Jusos und die 68er waren ihm ein Greuel, doch ihnen wirksam entgegentreten konnte er nicht – wohl auch, weil er die Herkunft ihrer Aggressivität aus dem Trauma der deutschen Kriegsniederlage verkannte. Die Staatsverschuldung, die unter seinem Vorgänger Willy Brandt zu explodieren begonnen hatte, stieg unter seiner Kanzlerschaft weiter an. Seine keynsianistischen Konjunkturprogramme verpufften. Und gegen seine besseren Einsichten ließ er als Kanzler der Ausländerpolitik ihren bekannten katastrophalen Verlauf.

Trotzdem bleibt die Erinnerung an einen Politiker, für den die Politik der Ernstfall war und der auch unter extremen Bedingungen versuchte, das Chaos zu überblicken und seiner Herr zu werden, anstatt ihm Tür und Tor zu öffnen. Helmut Schmidt verkörperte einen Typus, der heute dringend gebraucht wird, aber unwiederholbar zu sein scheint.





Handschlag unter Hanseaten

Nach seiner Amtszeit als Bundeskanzler wurde Helmut Schmidt 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit. Eingefädelt hatte den Wechsel der Gründer und Inhaber des Blattes Gerd Bucerius. Anfangs sei von „vier tragenden Artikeln im Jahr“ die Rede gewesen, wie sich später Zeit-Chefredakteur Theo Sommer erinnerte, ein schriftlicher Vertrag sei im übrigen nie geschlossen worden, „ein Handschlag reicht unter Hanseaten noch immer aus“ (Sommer).

Wer heute im Online-Archiv der Zeit forscht, bekommt zu Helmut Schmidt 282 Treffer angezeigt. Zuletzt verfaßte er im September einen Nachruf auf seinen Wegbegleiter Egon Bahr und führte ein Gespräch mit Hamburgs Ersten Bürgermeister Olaf Scholz über die Zukunft der Stadt. In seinem letzten programmatischen Zeitungstext Anfang Juli widmete er sich der Finanzkrise um Griechenland und dem Flüchtlingszustrom. Er pochte auf die europäische Solidarität und äußerte sich verständnisvoll über Merkels Politik. Schmidt: „Die Deutschen haben noch für viele Generationen Auschwitz im Gepäck.“ Sein letztes Buch, eine Art Lebenszeugnis, erschien in diesem Frühjahr: „Was ich noch sagen wollte“ (C. H. Beck).

Helmut Schmidt erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Theodor-Heuss-Preis für sein Handeln in der RAF-Zeit, den Adenauer-de Gaulle- sowie den Henry-Kissinger-Preis, den Henri-Nannen-Preis für sein publizistisches Lebenswerk sowie den Hanns-Martin-Schleyer-Preis für seine „Verdienste um die Festigung und Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens“. Seit 2003 ist die Universität der Bundeswehr und seit 2012 ein Gymnasium in Hamburg nach ihm benannt. (tha)