© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Die Schuld war sein Programm
Ein Nachruf auf den Historiker Hans Mommsen
Stefan Scheil

Politisch profiliert sind sie immer gewesen, die Historiker der Familie Mommsen. Das galt auch für Hans Mommsen, den aktiven Sozialdemokraten. Parteichef Sigmar Gabriel bescheinigte ihm 2010 ein halbes Jahrhundert politischer Parteinahme, immer auch mit Einfluß auf seine Forschung. Das gesellschaftliche Leitbild stand im Fokus von Mommsens Beiträgen. Dies schloß unbequeme Ansichten im Einzelfall nicht aus. In der Frage etwa, wer im Februar 1933 den deutschen Reichstag angezündet habe, trat er den Gerüchten einer NS-Täterschaft konsequent entgegen.

An anderer Stelle überwog das Wunschdenken. Die Kollektivschuld der Deutschen blieb Mommsen zeitlebens ein zentrales Anliegen. Im Grunde bearbeitete der von ihm führend ausgetragene Historikerstreit zwischen „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“ immer die Frage, ob es gelingen werde, den Judenmord des Nationalsozialismus dem deutschen Volk anzulasten. Mommsen arbeitete daran, bestand aber auf wissenschaftlicher Präzision, die er zeitgleich mit seiner Arbeit unfreiwillig überflüssig machte. Die Öffentlichkeit liebt Differenzierungen nicht. Als Daniel Goldhagen Mitte der 1990er Jahre dann die Kollektivschuldthese in ihrer plattesten Form als eliminatorische Neigung aller Deutschen gegenüber dem Judentum präsentierte, war der bundesdeutsche Jubel groß. Wer den Münchner Historikertag 1996 besucht hat, durfte die hilflose Arroganz miterleben, mit der Mommsen dieser von ihm mitverursachten Entwicklung begegnete.

Schließlich machte er weiter, nachdem der Lärm um Goldhagen verklungen war. Der Tenor blieb der gleiche. Im Jahr 2006 ließ Mommsen verlauten, die deutsche Gesellschaft würde eigene „Apologetik“ betreiben, wenn sie die Verantwortung für das, was zwischen 1933 und 1945 geschehen sei, den damaligen amtlichen Verantwortungsträgern zuordnen würde. Vergangenes Jahr brachte er noch einmal ein Buch in dieser Lesart heraus. So wird man sich an ihn erinnern. Am 5. November, seinem 85. Geburtstag, ist er verstorben.