© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Zweiter Weltkrieg und Zusammenbruch
Von den großen Erfolgen der Deutschen zu Beginn des Krieges und Hitlers und Stalins Absichten, von den Rückschlägen, von dem Plan, die europäischen Juden zu vernichten, dem deutschen Widerstand und dem Zusammenbruch / Folge 7
Karlheinz Weißmann

Schon nach dem Sieg über Polen hatte Hitler Paris und London den Vorschlag gemacht, wieder zu verhandeln. Aber dort lehnte man ab und plante stattdessen Angriffe auf Deutschland und die Sowjetunion. Um dem zuvorzukommen, ließ Hitler sowohl Dänemark als auch Norwegen besetzen. Aber erst im Mai 1940 kam es zu einem direkten Zusammenstoß mit den Westmächten, als deutsche Armeen Frankreich, Belgien und die neutralen Niederlande überrannten. Anders als im Ersten Weltkrieg war der Krieg jetzt ein Bewegungskrieg, in dem die modernsten Waffengattungen – Flugzeuge, Fallschirmjäger und vor allem Panzer – eine entscheidende Rolle spielten. Die Überlegenheit der deutschen Wehrmacht trug wesentlich dazu bei, dass sie in vierzig Tagen etwas erreichte, was die deutschen Armeen zwischen 1914 und 1918 in vier Jahren nicht erreichen konnten: Frankreich war besiegt, Paris besetzt, die Briten mussten vom Kontinent fliehen.

Es gibt Filmaufnahmen, die zeigen Hitler nach dem Sieg über Frankreich. Sein schwerer Mercedes fährt hinter dem Brandenburger Tor auf die Straße Unter den Linden, und die Reifen versinken fast in einem Blumenteppich. Man hat den Eindruck, als ob der Wagen auf den Blüten schwimme. Hitler steht aufrecht, ein strahlender Sieger, die Menschen sind fassungslos vor Begeisterung, begeistert über den Triumph, begeistert darüber, dass alles so schnell ging, begeistert weil die Zahl der Gefallenen so gering war. Das Bild steht in scharfem Gegensatz zu einem anderen. Vor Kriegsbeginn hatte Hitler eine Zahl Panzer durch die Innenstadt von Berlin fahren lassen und befohlen, genau zu beobachten, wie sich die Menschen verhielten. Das Ergebnis war ernüchternd. Nirgends ein »Hurra« auf die deutschen Soldaten, kein Stolz über die neuen Waffen, nicht einmal Kinder, die hinter den Panzern herliefen. Hitler hatte voller Wut auf den Bericht über das Verhalten der Berliner reagiert, weil der Inhalt so gar nicht seiner Erwartung entsprach, dass das Volk endlich kriegswillig sei. Im Sommer 1940 konnte er den Eindruck haben, als ob er es nun geschafft habe. Die Deutschen standen geschlossen hinter ihm, stolz auf den Ruhm ihrer Armee und bereit, den Kampf mit ihrem »Führer« fortzusetzen. Damals erschien Hitler als Herr Europas, als der, der nicht nur die Niederlage im Ersten Weltkrieg wiedergutgemacht hatte, sondern auch als der, der das Schicksal des Kontinents in seiner Hand hielt.

Viele Beobachter der Ereignisse hatten im Sommer 1940 den Eindruck, dass Deutschland unbesiegbar sei. Es war mit der Sowjetunion und mit Italien verbündet, Spanien und Portugal zeigten ihre Sympathie, sogar in den besetzten Gebieten gab es eine erhebliche Zahl von Menschen, die glaubten, dass Deutschland dem Kontinent eine sinnvolle neue Ordnung geben würde. Deutsche Truppen kontrollierten das ganze Gebiet zwischen den Pyrenäen und einem Punkt östlich von Warschau, zwischen dem Nordkap und den Alpen. In Deutschland selbst war praktisch jedem, der etwas gegen Hitler hatte, die Sprache verschlagen, angesichts der Siege, die er errang. Aber es gab auch schon Hinweise darauf, dass die großen Erfolge auf tönernen Füßen standen. Das erste Problem war Großbritannien, das Hitler weder dazu bewegen konnte, Frieden zu schließen, noch besiegen konnte, weil weder die deutsche Marine noch die deutsche Luftwaffe in der Lage waren, das Inselreich in die Knie zu zwingen. Das zweite Problem war die Sowjetunion, von der er ahnte, dass sie irgend etwas im Schilde führte, was sich zuletzt gegen Deutschland richten würde. Das dritte Problem – und das hatte Hitler kaum im Blick – waren die USA, wo sich mit Franklin D. Roosevelt wieder ein Präsident an der Macht befand, dessen ganze Sympathie Großbritannien und dessen ganzer Widerwille Hitler und den Deutschen galt.

Nachdem der Krieg über Monate hinweg eine Art Pause gemacht hatte, kam er im Frühjahr 1941 wieder in Bewegung. Die Ursache war, dass das mit Deutschland verbündete Italien bei dem Versuch scheiterte, die Balkanhalbinsel unter seine Kontrolle zu bringen. Daraufhin ließ Hitler auch Jugoslawien und Griechenland durch deutsche Truppen erobern. Zeitgleich begann er Pläne für einen Angriff auf die Sowjetunion auszuarbeiten. Man liest manchmal, dass das mit einer Art Größenwahn zusammenhing, aber Hitler ging es eher darum, dass, wenn er die Briten nicht besiegen konnte, ihm nichts anderes blieb, als Stalin in die Knie zu zwingen. Denn Stalin hatte Hitler unmiss-verständlich klargemacht, dass er ihm nur die Wahl lasse, entweder ganz Osteuropa auszuliefern und sich der Sowjetunion unterzuordnen, oder zuzusehen, wie er, Stalin, ein Bündnis mit Großbritannien eingehe. Eine Drohung, die Hitler sehr ernst nahm, und das mit gutem Grund, denn Stalin begann jetzt, seine Armee auf einen Krieg gegen Deutschland vorzubereiten. Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 in den sowjetischen Machtbereich einmarschierte, stieß sie zunächst kaum auf wirksame Gegenwehr. Denn die sowjetischen Soldaten waren auf einen Vorstoß, nicht auf Verteidigung vorbereitet, sie kämpften zwar zum Teil hart und erbarmungslos, aber viele ergaben sich auch oder flohen vor den anrückenden deutschen Truppen. Große Teile der Bevölkerung feierten die Deutschen als Befreier von der kommunistischen Herrschaft. Auf alten Aufnahmen sieht man manchmal Bäuerinnen, die den deutschen Soldaten Brot und Salz zur Begrüßung reichen, oder Priester, die sie mit dem Kreuz segnen, weil sie in den Kampf gegen den Kommunismus ziehen, der soviel Leid über die Menschen gebracht hatte. Welches Leid Hitler ihnen bringen würde, ahnten sie da noch nicht.

Da Hitler die Menschen in diesem Teil Europas, vornehmlich die slawischen Völker, als minderwertig betrachtete, wollte er ihre Unterstützung nicht. Wie man überhaupt feststellen muss, dass der Krieg im Osten anders geführt wurde als der im Westen. Im Westen hielten die Beteiligten die Regeln ein, die für gewöhnlich in Kriegen zwischen Europäern galten (wer sich ergibt, wird nicht getötet, Gefangene werden versorgt, man verwüstet das Land des Gegners nicht unnötig), im Osten dagegen hatte schon die Sowjetunion deutlich gemacht, dass sie die Vernichtung des Feindes um jeden Preis wollte, während Hitler seinerseits der Meinung war, dass Kommunisten und slawische »Untermenschen« keine Schonung verdienten. Die Folgen waren furchtbar und führten nicht nur dazu, dass der Kampf von beiden Seiten mit außerordentlicher Brutalität geführt wurde, sondern auch dazu, dass sehr viele sowjetische Soldaten in deutschem Gewahrsam und dann sehr viele deutsche Soldaten in sowjetischem Gewahrsam elend zugrunde gingen. Als im Februar 1943 die Wehrmacht bei der Stadt Stalingrad eine vernichtende Niederlage erlitt, gingen 110 000 deutsche Soldaten in sowjetische Gefangenschaft, von denen nur 5000 überlebten.

Die Grausamkeit nahm noch weiter zu, als klar wurde, dass nach den ersten deutschen Erfolgen im Osten der Vormarsch – vor allem durch das Wetter, wie schon bei Napoleon – ins Stocken kam. Anfang des Jahres 1942 begannen einige Zeitgenossen aber auch anzunehmen, dass Hitler den Krieg verlieren werde, weil kurz zuvor die USA in den Krieg eingetreten waren. Die konzentrierten sich zwar anfangs auf ihren Krieg gegen Japan, aber mittelfristig würden sie ihre ungeheuren Mittel auch nutzen, um an der Seite Großbritanniens und der mittlerweile mit ihm verbündeten Sowjet­union gegen Deutschland zu kämpfen. Es dauerte immerhin noch bis zum Juni 1944, bevor die Hauptstreitkräfte der Vereinigten Staaten und Großbritanniens auf dem europäischen Kontinent landen konnten. Die ungeheure Zerstörungskraft des Krieges hatte Deutschland aber schon vorher zu spüren bekommen. Das erklärte sich daraus, dass die USA die Möglichkeit besaßen, eine gigantische Luftflotte aufzubauen, deren Flugzeuge mit riesigen Bombenlasten nach Deutschland kamen und das Land in Schutt und Asche legten. Praktisch wurde jede größere Stadt in Deutschland zerstört und mehr als eine halbe Million Zivilisten getötet.

Die Angst um das eigene und das Leben von Angehörigen, die wachsende Zahl der Gefallenen und der Bombentoten, die scharfe Verfolgung jedes Mannes und jeder Frau, die sich kritisch über Hitler und den Nationalsozialismus äußerten, die schlechter werdende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnraum und Medikamenten, die wachsende Angst vor einer Niederlage und der Rache der Sieger erklärt viel davon, warum die wenigsten Menschen damals Interesse für die Frage hatten, was mit ihren jüdischen Mitbürgern geschah. Seit Kriegsbeginn hatte die nationalsozialistische Führung angefangen, die Behandlung der Juden in Deutschland, dann auch in den von Deutschland besetzten Gebieten immer weiter zu verschärfen. Sie wurden jetzt nicht mehr nur zurückgesetzt und schlechter gestellt oder zur Auswanderung genötigt, sie mussten vielmehr ihre letzten Vermögenswerte abgeben, standen unter dauernder Kontrolle wie Verbrecher und wurden mit einem gelben Stern auf ihrer Kleidung markiert. Hinter den deutschen Linien an der Ostfront kam es zu Massenerschießungen, und gleichzeitig begann die Verschleppung von Juden aus dem ganzen Machtbereich Hitlers. Die Juden wurden dabei in spezielle Konzentrationslager gebracht, von denen die meisten Deutschen nur wussten, dass sie irgendwo »im Osten« lagen. Weder Hitler noch seine engere Umgebung trauten sich, offen zu sagen oder zu zeigen, was sie da eigentlich planten und taten. Denn man hatte immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Deutschen (oder andere Europäer) sich zwar nicht schützend vor die Juden stellten, dass sie aber auch keine Sympathie dafür zeigten, wenn Juden öffentlich gedemütigt, verletzt oder sogar getötet wurden. Also beschloss die nationalsozialistische Führung das, was die »Endlösung der Judenfrage« genannt wurde, in aller Heimlichkeit zu vollziehen.

Die genaue Bedeutung des Wortes »Endlösung« war dabei schwankend: Ursprünglich hieß es wohl soviel wie Vertreibung der Juden, dann ging es um Zwangsarbeitseinsatz, bei dem in Kauf genommen wurde, dass ein erheblicher Teil der jüdischen Arbeiter umkam, dann um die Tötung derjenigen, die man für »unnütz« hielt, schließlich um die Tötung aller. Es gab auch andere Gruppen der Bevölkerung, etwa schwer geistig oder körperlich behinderte Menschen, die das Regime Hitlers auslöschen wollte, und weitere, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihrer sonstigen Überzeugung oder ihrer Lebensweise verfolgt wurden, aber nur im Fall der Juden gab es die erkennbare Absicht, sie vollständig zu vernichten. Allein in dem Konzentrationslager Auschwitz kam mehr als eine Million Menschen, in der überwiegenden Zahl Juden, ums Leben. Sie wurden ermordet oder gingen an den Haftbedingungen, Hunger und Krankheit zu Grunde.

Selbstverständlich konnte unter den Bedingungen des Krieges die »Endlösung« nicht vollständig verborgen bleiben, und diejenigen, die schon vorher Zweifel an Hitler und seinem System hatten und vom Ausmaß der Verbrechen erfuhren, fühlten sich durch die Einsicht in das Ungeheuerliche, das sich da abspielte, in der Überzeugung bestärkt, etwas gegen ihn und seine Herrschaft unternehmen zu müssen. Aber wie immer in so schwieriger Lage hatten nur wenige den Mut, überhaupt etwas zu tun. Manche von ihnen handelten aus christlicher Überzeugung oder einfach aus Menschlichkeit, andere, weil sie als Sozialisten, Sozialdemokraten oder Konservative das Regime Hitlers und dessen Werte radikal ablehnten, dritte, weil sie als junge Leute einen besonders geschärften Sinn für die Verlogenheit der braunen Herren hatten.

Die wichtigste Gruppe des Jugendwiderstands war ohne Zweifel die »Weiße Rose« um die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Die Weiße Rose bestand vor allem aus Studenten, für die neben dem Glauben die Überzeugung ausschlaggebend war, dass die Nationalsozialisten Unrecht taten, dass das auf alle Deutschen zurückfallen werde und ein Volk, das gegen den Unterdrücker Napoleon aufgestanden sei, nicht tatenlos zusehen könne, wenn der Unterdrücker Hitler seine Herrschaft über ganz Europa errichte. Nach einer tollkühnen Aktion, bei der Mitglieder der Weißen Rose Flugblätter in der Münchener Universität verteilt hatten, wurde die Gruppe von der Gestapo – der »Geheimen Staatspolizei« – zerschlagen, die Geschwister Scholl und viele andere festgenommen, verhört, teilweise gefoltert und schließlich hingerichtet. Bevor Hans Scholl unter dem Fallbeil starb, rief er: »Es lebe die Freiheit!«

Am Schicksal der Weißen Rose, so heldenhaft es war, konnte man allerdings auch ablesen, dass es kaum genügte, sich heimlich zu treffen oder Flugblätter zu verteilen, um Hitler einen entscheidenden Schlag zu versetzen, sondern dass man tatsächlich die Möglichkeit haben muss­te, zu handeln. Das konnten eigentlich nur diejenigen, die in irgendeiner Art über Einfluss verfügten und Zugang zu Hitler hatten. Abgesehen von hohen Beamten kamen, wie die Dinge lagen, nur Offiziere in Frage. Seit dem Beginn des Krieges hatte es etwa ein Dutzend Versuche gegeben, Hitler zu töten. Allerdings waren die praktischen Schwierigkeiten sehr groß, auch weil man sich immer die Frage stellen musste, was nach einem erfolgreichen Attentat geschehen würde, ob es zu Kämpfen zwischen der Partei – als besonders gefährlich galt die SS – und der Wehrmacht käme, ob die Bevölkerung eher auf der Seite der Verschwörer oder eines toten Hitler stehen werde, in dem sie vielleicht einen Helden sehen konnte, ob man den Krieg fortzusetzen in der Lage wäre oder nicht.

Tatsächlich kam es erst in einem Widerstandskreis um den Obersten Claus von Stauffenberg zu umfassenden Planungen für einen regelrechten Staatsstreich, das heißt, man überlegte nicht nur, wie Hitler zu töten sei, sondern auch, wie eine neue Regierung für Deutschland aussehen könnte. Stauffenberg selbst wollte Hitler bei einer Besprechung im »Führerhauptquartier Wolfsschanze«, das in Ostpreußen lag, töten, nach Berlin zurückfliegen und dann die Maßnahmen leiten, um den Umsturz herbeizuführen. Aber Hitler überlebte den Anschlag am 20. Juli 1944 wie durch ein Wunder und die Erhebung scheiterte. Die Beteiligten der Verschwörung wurden verhaftet, die meisten von ihnen hingerichtet. Auch Stauffenberg, den man schon in der Nacht der Erhebung erschoss. Er starb mit dem Ruf: »Es lebe das heilige Deutschland.«