© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Als wäre nichts gewesen
Große Koalition: Nach den Anschlägen in Frankreich versuchen die Akteure in Berlin, den Zusammenhang mit der Asylkrise kleinzureden
Paul Rosen

Während der französische Präsident François Hollande am historischen Ort Versailles feststellt, „Frankreich befindet sich im Krieg“, ist Berlin weiter im Komödiantenstadl-Modus unter Beteiligung zahlreicher Laienspieler. Empört wiesen Vertreter aller Parteien Äußerungen des bayerischen Finanzministers Markus Söder (CSU) zurück, der nach den blutigen Attentaten von Islamisten in Frankreich erklärt hatte: „Paris ändert alles.“ Söders Parteichef Horst Seehofer ging die Äußerung zu weit („eine völlig unangemessene Reaktion“). Unisono wiederholten Vertreter aller Parteien die Sprachregelung, die Anschläge könnten nicht in einen Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle gestellt werden. 

„Die Flüchtlinge aus Syrien sind vor dem barbarischen Terror geflohen“, sagte etwa Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die offenbar nicht ahnt, daß im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bald eine internationale Operation gegen den barbarischen Terror in Syrien ausgerufen werden könnte. 

Willsch ist längst kein einsamer Rufer mehr

Dann könnte Berlin sich mit einer Truppenanforderung der Vereinten Nationen konfrontiert sehen. Die Weltgemeinschaft dürfte sich in diesem Fall kaum mit Sanitätern und Logistik abspeisen lassen. Im rein auf die innenpolitische Theaterbühne konzentrierten Berlin hat niemand begriffen, welchen Schachzug der russische Präsident Wladimir Putin auf dem syrischen Spielfeld mit seiner Intervention ausgeführt hat: Putins Absicht ist die Reanimierung der bis 1945 existierenden alten internationalen Koalition, um sein Land aus seiner durch die Krim-Krise entstandenen Isolation zu befreien. Die Anschläge von Paris erleichtern das Schmieden eines neuen Bündnisses, nach dem Hollande bereits ruft und dem irgendwann Deutschland wird beitreten müssen, selbst wenn es lieber „the hippie state“ (der britische Politologe Anthony Glees) bleiben möchte. Vor diesem Hintergrund wirkt eine Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht einmal zwei Stunden vor der Attentatsserie von Paris geradezu fatal und zeugt von Realitätsfremdheit. Merkel sagte in einer Fernsehsendung: „Die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff.“ 

Mindestens eine Viertelmillion kreuz und quer durch Deutschland fahrende Ausländer, von denen keiner weiß, woher sie kommen, wohin sie wollen und vor allem was sie wollen, sind schon der quantitative Gegenbeweis zur These der Kanzlerin. Viel wichtiger ist jedoch, daß alle Lageberichte der Geheimdienste und der deutschen Polizeibehörden seit Monaten ein und dieselbe Botschaft verbreiten: Es wird einen Anschlag auch in Deutschland geben. Und wenn es ihn geben werde, werde er etwa so aussehen: Terroristen begeben sich in mehreren Gruppen auf öffentliche Plätze, in unpolitische Veranstaltungen oder in Restaurants oder öffentliche Verkehrsmittel und erschießen so lange unschuldige Menschen, bis ihnen die Munition ausgeht. Genau das ist in Paris passiert. Und Merkel kennt diese Lageberichte. 

Natürlich ist nach Paris alles anders, auch wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel das bestreitet: „Ich fand den Satz, nach Paris ist alles anders, den falschesten Satz, den man aussprechen kann. Ich finde, nach Paris darf nichts anders sein“, sagte Gabriel. Doch das Weltgeschehen pflegt sich nicht nach dem SPD-Parteivorstand zu richten. Der Vizekanzler lehnte es noch ab, von „Kriegszustand“ zu sprechen, als sein französischer sozialistischer Freund Hollande diesen gerade ausrief. 

Es hilft Merkel wenig, daß SPD und Grüne treu an ihrer Seite stehen und sich von Söder absetzen. „Söder nutzt auf schäbige Weise den Terrorakt für seine reaktionäre Sache“, befand Grünen-Chefin Simone Peter. Es gebe keinen Nachweis einer Verbindung zwischen Terrorismus und Flüchtlingen, behauptete Justizminister Heiko Maas (SPD). Das war an die Adresse des bayerischen Finanzministers gerichtet. Söder hatte verlangt, die Sicherheitsbehörden müßten wissen, „wer bereits im Lande ist und noch zu uns kommt“. 

Unterdessen muß Merkel mit ansehen, wie an der eigenen Basis die Unterstützung bröckelt. Argwohn, Mißtrauen und offene Kritik beginnen sich von Süden her durch die Union zu fressen und werden Berlin erreichen. Die CSU hat für ihren Parteitag am Wochenende einen Leitantrag vorbereitet, in dem eine Obergrenze für die Einreise von Flüchtlingen in diesem Jahr und eine Kontingentregelung für Deutschland für die nächsten Jahre „entsprechend seiner leistbaren Kapazitäten“ gefordert wird. Nimmt die CSU ihren eigenen Beschluß ernst, kann die Grenze nur bei null liegen. 

Auch die baden-württembergische CDU setzt sich für eine Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland ein. Merkels Wort, das Asylrecht habe keine Obergrenze, wird schon in Kürze der Beschlußlage mehrerer Landesverbände widersprechen, denn auch der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat sich bereits von seiner Parteichefin abgesetzt: „Eine unkontrollierte Einreise darf es nicht mehr geben.“ Tillichs Satz fiel im Zusammenhang mit Paris. 

Am weitesten geht der Rettungsschirm- und Asyl-ohne-Obergrenzen-Kritiker und CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch. „Wir müssen dazu kommen, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen. Gelingt uns das nicht, werden die Bürger der Kanzlerin das Vertrauen entziehen“, sagte Willsch, der längst kein einsamer Rufer in der Wüste mehr ist.