© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Sie ist ihr eigenes Maß
Zehn Jahre Kanzlerin: Die Partei entkernt und vormalige Gegner umarmt – die Politik Angela Merkels ist voller programmatischer Wendungen
Jürgen Liminski

Angela Merkel ist Experimentalphysikerin. Viele halten sie für eine brillante Taktikerin. Ihre Methode aber ist simpel, experimentalphysikalisch eben: Reaktionen abwarten, schauen, wie der Versuch (die Debatte) läuft, mit einer Bemerkung katalysierend wirken und wenn es klappt, weitermachen. Das heißt weitere beschleunigende Bemerkungen in den Diskurs einspeisen. Wenn der Versuch aber fehlschlägt und die Debatte einen ungewissen Verlauf nimmt, dann denkt sie um und startet nicht selten eine andere Versuchsreihe. So hat sie es die ganzen zehn Jahre ihrer Kanzlerschaft gehalten. Auf Konsens und Mehrheit kam es ihr an, auf den Machterhalt. Noch präziser: Der Weg war das Ziel. Oder politisch ausgedrückt mit den Worten eines Mannes, der ihr Vorbild sein könnte, Charles-Maurice de Talleyrand: „Dort geht mein Volk, ich muß ihm hinterher, ich bin sein Führer.“ 

Talleyrand diente sechs Regimen, zuvor war er Bischof. Zu Unrecht gilt er als Meister des Opportunismus, ihm ging es um die Mitsprache Frankreichs im Kreis der Mächtigen. Ähnlich Merkel, allerdings mit weit weniger patriotischem Impetus. 

Aus einem Pastorenhaushalt stammend, diente sie als Jungfunktionärin dem DDR-Regime, angeblich war sie zeitweise auch verantwortlich für Propaganda. Auf jeden Fall gehörte sie, wenn auch nur am Rande, zur sowjetisch geprägten Wissenschaftselite der DDR und galt in Zeiten von Glasnost und Perestroika als Reformkommunistin. Nach der Wende trat sie in einem Kollektiv der CDU bei – unklar ist, ob diese Partei ein Herzenswunsch war – und wurde mit anderen in Kohls Machtfahrstuhl innerhalb eines Jahres nach oben befördert: zur Ministerin, zunächst für Frauen und Jugend, dann für Umwelt. Schließlich machte Parteichef Kohl sie zur Generalsekretärin der Partei. Kohls  „Mädchen“ wartete ab, sah wie Talleyrand die geeignete Stunde der Trennung („Verrat ist nur eine Frage des Datums“) und schrieb als Parteigeneral mitten in der Kohlschen Parteispendenaffäre am 22. Dezember 1999 in einem Gastbeitrag für die FAZ die berühmten, trennenden Sätze: Helmut Kohl habe „der Partei Schaden zugefügt“, es sei nicht hinnehmbar, daß er „in einem rechtswidrigen Vorgang“ sein Wort „über Recht und Gesetz“ stelle. Für die CDU bedeute das, daß man sich von Kohl lösen müsse. „Nur auf einem wahren Fundament kann Zukunft entstehen“. Die Partei müsse nun „laufen lernen, sich zutrauen, in Zukunft auch ohne (...) Helmut Kohl (...) den Kampf mit dem politischen Gegner aufnehmen.“

Ein Fundament? Bei Merkel bleibt eher alles relativ

Diese Sätze könnten heute wie ein Bumerang zurückkommen. Noch sind es nur wenige Parteigenossen, die es offen zu sagen wagen, daß die Kanzlerin ihre Meinung über Recht und Gesetz stelle und daß man in Zukunft auch ohne sie den Kampf mit dem politischen Gegner aufnehmen müsse. 

Nur: Welchem Gegner? Sie hat die Partei programmatisch so entkernt, daß die CDU mit fast allen Parteien koalitionskompatibel geworden ist, vornehmlich mit der SPD und den Grünen – natürlich mit ihr an der Spitze. Denn sie kann mit fast allen. Empathie ist vermutlich ihre größte Stärke: Sich so auf Freund und Feind einstellen, daß alle denken, es mit einer Gleichgesinnten zu tun zu haben. Sie kann vor den Arbeitgeberverbänden sprechen und vor den Gewerkschaften, vor Alten und Jungen, vor Prälaten und atheistischen Humanisten, und manchmal erinnert sie doch etwas an den Journalisten Schmock in Gustav Freytags Roman „Die Journalisten“: „Ich habe geschrieben links, und wieder rechts, ich kann schreiben nach jeder Richtung.“

Programmatisch vollzieht sie allerlei Drehungen und Wendungen. Erst tritt sie für einen Energiemix ein, bei dem die Atomkraft eine dauerhafte Rolle spielt. Sie verlängert sogar die Laufzeiten, und ein halbes Jahr später, März 2011, unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima und der bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, befiehlt sie dann plötzlich den Atomausstieg und verkauft ihn als „Energiewende“. 

In der Familienpolitik deckt sie Ursula von der Leyens Kurs weg von der Familie als Institution und hin zur Familienmitgliederpolitik, ganz wie die SPD es vorhatte und wie die Wirtschaftsfunktionäre es ihr nahelegen. Familien werden gebeutelt – Abschaffung der Eigenheimförderung und Kürzung des Kindergelds um zwei Jahre – und in Funktion des Arbeitsmarkts neu geordnet (Elterngeld und Krippenoffensive). Als der demoskopische Trend zur Abschaffung der Wehrpflicht neigt, wird auch diese fallengelassen. Den Widerstand gegen den Mindestlohn opfert oder schenkt sie der SPD, ebenso die Einführung der Rente mit 63, ein demographiepolitisches Fiasko. 

All diese Wendemanöver machen es schwer, irgendeine Linie in ihrer Politik zu finden. Auch Journalist Schmock folgt nicht Überzeugungen, sondern Überlebensstrategien. Aber das ist kein „wahres Fundament, auf dem Zukunft entstehen kann“.

Apropos Wahrheit. Weit ist Merkel bei der Suche nach dem „wahren Fundament“ nicht gekommen, wenn sie je wirklich gesucht hat. Denn auch in Sachen Religion und Kultur bleibt bei ihr alles relativ. Den Islam bezeichnet sie als integralen Bestandteil Deutschlands, das Existenzrecht Israels, das nicht wenige islamische Länder fundamental bestreiten, als „Staatsräson“ der Bundesrepublik. Die Debatte über die Sterbehilfe läßt sie laufen, den Begriff der Ehe aushöhlen, zur Abtreibung schweigt sie. Die Identität Europas setzt sie mit dem Euro gleich, zeigt erst Härte gegenüber Griechenland und gibt dann doch nach, womit sie Hunderte von Milliarden Steuergelder aufs Spiel setzt. Und jetzt die völlig irrationale Asyl-und Flüchtlingspolitik. 

Bei dieser programmatischen Geisterfahrt erscheint es wenig verwunderlich, daß die Popularität ihrer Partei vom Sinkflug in den freien Fall überzugehen droht. Es ist auch diese antibürgerliche, programmatische Irrlichterei, die schon vorher das Entstehen der AfD erst möglich machte.

Eher irrational als besonnen und bedacht  

Merkel ist unprätentiös, einfach und freundlich. Sie vermittelt den Eindruck einer besonnen und bedacht vorgehenden Politikerin. Aber das ist nur der matte Fernseheindruck. In ihr steckt ein kräftiger Schuß Irrationalität, der auch jetzt in der Flüchtlingskrise deutlich zu beobachten ist. Bürgerliche Wähler aber brauchen nicht nur die formal sichtbare Beständigkeit immer gleicher Westen mit großen Knöpfen, sie brauchen auch und vor allem programmatische Kontinuität. Bürgerliche brauchen, so banal das klingt, ein Mindestmaß an Recht und Ordnung. Das hat die Kanzlerin mit ihren programmatischen Wendungen und mit ihren Rechtsbrüchen in der Flüchtlingskrise längst unterschritten. Das Recht ist das Maß der Politik, schrieb der Papst ihrer ersten siebeneinhalb Jahre Kanzlerschaft, Benedikt XVI., dem sie – auch das paßt ins Bild – mal so en passant Nähe zu Nazi-Denken unterstellte. Das tat ihr später zwar leid, aber es unterstreicht den Charakter der Unberechenbarkeit und den Hang zu linksliberalen Attitüden. Sie ist ihr eigenes Maß.

Mit neuen Wendungen ist zu rechnen. Die Wiederherstellung des Verfahrens von Dublin ist eine. Es ist auch richtig, daß sie mit Recep T. Erdogan, dem Sultan der in den Islam rückfälligen Türkei, über die Flüchtlinge redet und eine finanzielle Unterstützung für deren Betreuung aushandelt. Falsch ist es, der türkischen Erpressung nachzugeben und Ankara eine neue Perspektive für einen Beitritt zur Europäischen Union zu geben. Dann lieber die Flüchtlinge, das wären immerhin 80 Millionen Muslime weniger in der EU. Richtig ist auch, daß die Bundesregierung ein neues Asylgesetz verabschiedet und einige Balkanländer als sichere Staaten einstufte. Das erleichtert die Abschiebung und Zurückweisung an der Grenze. Falsch ist es aber, die Türkei als sicheres Land und Rechtsstaat einzuordnen. 

Die Fehlentscheidungen kosteten Merkel schon viel Popularität. Aber das scheint sie nicht sonderlich zu berühren. Sie handelt losgelöst von demoskopischen Befunden, all die Jahre ihrer Kanzlerschaft tat sie genau das Gegenteil. Sollte etwas dran sein an der Spekulation, daß Angela Merkel andere Zukunftspläne hat und ihr das Schicksal Deutschlands nicht mehr am Herzen liegt? Die Spekulation hat einen Namen: Generalsekretariat der Uno. Ende nächsten Jahres endet das Mandat des amtierenden Generalsekretärs Ban Ki-Moon. Jetzt wäre wieder Europa an der Reihe, konkret ein angesehener Europäer oder besser noch eine Europäerin, die in den großen globalen Fragen wie Umwelt- und Flüchtlingsströme über Erfahrung verfügt. Merkel erfüllt diese Kriterien.

 Sollte das Gerücht einen wahren Kern haben, dann stellte sich sofort die Frage: Wann wirft sie ihren Hut in den Ring? Vor oder nach den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg? Davon hängt viel ab für die CDU. Sie wird es tun, sobald sie merkt, daß ihr Stern nicht nur sinkt, sondern stürzt. Das kann schneller kommen, als es heute aussieht. Sie wäre dann der prominenteste Flüchtling der Krise.

Foto: Merkel spricht 2005, 2009 und 2013 die Eidesformel: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen ...“ werde