© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Die Macht der Niemande
Von Matussek bis Müllermilch: Auf Facebook und Twitter herrschen die Dauerempörten
Markus Brandstetter

Am 14. November, die Berichte von den Anschlägen in Paris gehen um die Welt, schreibt der Autor und Journalist Matthias Matussek auf seiner Facebook-Seite, daß der Terror von Paris die Debatten über offene Grenzen und junge islamische Männer im Land nun wohl in eine neue Richtung bewegen werde. Hinter diesen Satz setzt er ein lächelndes Gesicht, einen Smiley.

Matussek hat sich in den letzten zwanzig Jahren vom liberalen Tausendsassa zum konservativen Katholiken und überzeugten Abendländer gewandelt, der gern ein bißchen provoziert, und da kommt der dumme Smiley gerade recht, um ihn in der Öffentlichkeit kräftig abzuwatschen, was Jan-Eric Peters, sein Chef bei der Welt, Kai Diekmann und Hunderte kleinerer Lichter sofort mit Wonne tun. Unterstellt wird ganz selbstverständlich, daß Matussek sich über den Terror von Paris freue, weil der nun den Muslimen in Deutschland das Leben schwerer mache, was vollkommen absurd ist. Nicht absurd ist, daß der gelbe Smiley Matussek nun dazu zwingt, auf Facebook zu Kreuze zu kriechen, weil sogar ein Bestsellerautor plötzlich Angst um Ruf, Job und Existenz haben muß, ist der Druck aus den sozialen Medien nur genügend hoch.

Geholfen hat ihm das jedoch nicht mehr. Nachdem die Situation auf einer Redaktionskonferenz der Welt am Dienstag dieser Woche eskalierte, trennte sich die Springer-Zeitung „mit sofortiger Wirkung“ von Matussek.

Am 21. Dezember 2013 fliegt die dreißigjährige Justine Sacco von New York nach Südafrika, wo sie Weihnachten mit ihren Eltern verbringen will. Während eines Zwischenstopps in London twittert sie von ihrem Handy in die Welt hinaus: „Going to Africa. Hope I don’t get Aids. Just kidding. I’m white.“ („Auf dem Weg nach Afrika. Hoffe, daß ich mir kein Aids hole. War nur Spaß. Ich bin weiß.)

Elf Stunden später, als Sacco in Kapstadt landet, ist sie auf dem Kurznachrichtendienst Twitter einer der berühmtesten Menschen auf dem Erdball. Ihre Twitter-Nachricht wurde inzwischen tausende Male weitergeleitet und von Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Fernsehsendern, Bloggern und Internet-Medien millionenfach verbreitet. Noch bevor sie gelandet ist, hat sich Saccos Arbeitgeber, die New Yorker Internetfirma IAC, ein Milliardenunternehmen, öffentlich von ihr distanziert. 

Als Sacco ihre Reisetasche auf den Kofferkuli lädt, hat sie schriftlich, daß sie ihren Job, ihre Existenz, ihr Einkommen und ihr Ansehen verloren hat. Gekündigt, gedemütigt, von der halben Internet-Welt als „Rassistin“ und vom eigenen Vater als „Idiotin“ bezeichnet, verläßt die Managerin New York und die USA, um bei einem Praktikum in Äthiopien ihre Ruhe, ihr Selbst und den Willen zum Weiterleben zu finden.

Am 12. September dieses Jahres schreibt Peyton Head, Student an der Universität von Missouri und Vorsitzender des Studentenverbandes in seinem Heimatstaat, auf seiner Facebook-Seite: „Heute hat mir ein Typ aus einem Pritschenwagen ‘Nigger’ nachgeschrieen.“ Es gibt keine Zeugen, kein Foto von Wagen und Insassen, keine Autonummer, keine Anzeige, keine Beweise. Nichts. Ja, der behauptete Vorfall hat sich noch nicht einmal auf dem Universitäts-Campus ereignet, sondern auf einer vielbefahrenen Durchgangsstraße. Es gibt nur Peyton Heads Facebook-Eintrag. 

Was jedoch völlig egal ist. Kaum ist die Nachricht online, tauchen überall im Internet Nachrichten von Studenten und Ex-Studenten der Universität Missouri auf, die von rassistischen Beleidigungen gegen sie berichten. Die größte und beste staatliche Universität des amerikanischen Südens ist offenbar eine Brutstätte des Rassismus – und nie hat einer etwas gemerkt. Amerikanische Zeitungen, darunter die New York Times, fallen in den einstimmigen Massenchor ein und überbieten sich in Stimmungsbildern, Vermutungen und der Widergabe von Behauptungen, ohne jemals zu untersuchen, was Wahrheit und was Dichtung ist. 

Nach pausenlosen Studentenprotesten, einem Zeltlager vor dem Hauptgebäude und schwarzen Studenten im Hungerstreik reicht Timothy Wolfe, der Präsident der Universität, am 9. November seinen Rücktritt ein, um einer Entlassung durch den Senat zuvorzukommen. Weder eine Anhörung noch eine Untersuchung der behaupteten Vorfälle hat jemals stattgefunden. 

Am 11. November 2015 um ein Uhr morgens versendet der Luxemburger Journalist Marc Bourkel unter der Überschrift „WTF (‘What the Fuck’) Müllermilch Schoko“ ein Bild zweier Flaschen Müllermilch Schoko, die mit einem schwarzen Pin-up-Girl im Retro-Stil bedruckt sind. Fünf Stunden später twittert Tina Halberschmidt vom Handelsblatt zurück: „Habe Screenshot gemacht und auf Ihren Account verwiesen.“

Später fragen der Kölner Stadtanzeiger und der österreichische Kurier an, ob sie Bourkels Tweet auf ihre Internetseiten stellen dürfen, was unverzüglich gestattet wird.

Noch am selben Tag ist auf den Internetseiten des Handelsblatts zu lesen: „Alles sexistisch, oder was? Mit leichtbekleideten Damen versucht die Molkerei Alois Müller den Verkauf von Müllermilch anzukurbeln. Doch Pin-up-Girls auf Plastikflaschen findet nicht jeder anregend. Bei Twitter jedenfalls ist die Empörung groß.“

Die Empörung ist nicht groß, sie ist minimal. Den ganzen 12. November hatte es im Internet vielleicht zwanzig negative Kommentare gegeben, dafür aber ebenso positive von Leuten, die die Pin-up-Girls der Molkerei vollkommen harmlos fanden. Aber da jetzt eine Zeitung nach der anderen das Thema aufgreift, kommt die Sache richtig in Schwung. 

Am 12. November wissen unter anderem der Spiegel, die FAZ und die Bild-Zeitung, einige Rundfunk- und Fernsehanstalten und gefühlte hundert andere Medien, daß Müllermilch jetzt zu Weihnachten eine rassistische und frauenfeindliche Kampagne fährt, die Frauen aller Hautfarben erniedrigt und beleidigt. Natürlich absichtlich. 

Marc Bourkel, ein winziges Licht in der überschaubaren Medienlandschaft des Fürstentums Liechtenstein, kann sein Glück kaum fassen: Er bekommt „Retweets“, wie die Antworten auf Twitter-Meldungen heißen, von großen Zeitungen. 

Schaut man sich diese Vorfälle genauer an, dann fällt auf: Solche Kampagnen beginnen immer mit einer einzeiligen Anschuldigung, die weder bewiesen noch dokumentiert, noch sonstwas ist. Dafür ist sie emotional aufgeladen mit den mächtigsten Denunziationen, die es im Moment überhaupt nur gibt: Rassismus, Sexismus, Frauenfeindlichkeit. 

Ist ein solch massiver Vorwurf einmal draußen in der elektronischen Welt von Twitter, Instagram und Facebook und richtet er sich gegen bekannte Namen, umrundet er binnen Sekunden den Globus. Überall scheppern jetzt die Handys, trudeln Bilder ein, blinken Parolen, die nur einen Zweck kennen: die denunzierte Person zu erniedrigen, zu beleidigen und, wenn es irgend geht, sie um Ruf, Job und Stellung zu bringen. Das Endziel lautet immer: totale Verächtlichmachung und soziale Vernichtung der Person beziehungsweise Boykott und Ruin der Firma. 

Läge der Grund für all diese empörten Aufschreie tatsächlich in der andauernd behaupteten Humanität, der Menschenliebe und dem Gerechtigkeitssinn seiner Urheber – sie würden ganz anders vorgehen. Sie würden nicht Tatsachen frei erfinden, Geschichten herbeilügen, Bilder manipulieren, Beweise fabrizieren, Zitate aus dem Kontext reißen und andauernd Rassismus und Sexismus unterstellen, wo – wie bei Müllermilch – dies niemals intendiert war. Nein, sie würden zuerst einmal analysieren, den Sachen auf den Grund gehen, Patzer, Fehler und Dummheiten als menschliche Fehlleistungen ins Kalkül ziehen und akzeptieren, daß Geschmäcker halt verschieden sind. Und sie würden akzeptieren, daß es außer ihrer eigenen Meinung, die doch sowieso nur die Durchschnittsmeinung aller anderen auf Twitter und Facebook widergibt, auch noch eine andere Sichtweise der Dinge gibt. 

Aber hinter den Kampagnen stecken weder Menschenliebe noch Gerechtigkeitssinn, noch die immer mit großem Pathos vorgetragene persönliche Betroffenheit – sondern Schadenfreude, Bosheit und das Verlangen nach Macht, Einfluß und dem beifälligen Applaus der anderen Dauerempörten. 

Und was für eine Macht einem Niemand doch ein Handy, ein Twitter-Konto, ein Facebook-Account und schrille Rassismus-Schreie geben: Personen und ganze Firmen kann er vor den Augen der Welt krachend zu Fall bringen. Das allein war die Sache wert. 

Und manchmal gibt’s sogar ein Re-tweet von richtig bekannten Leuten.