© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Vom Kopf wieder auf die Füße gestellt
Weltoffen und bunt: Richard Wagner und vieles mehr an der Staatsoper Budapest
Sebastian Hennig

Als vor vier Jahren die gesamte Intendanz der ungarischen Staatsoper ausgetauscht wurde, vermittelte die hiesige Presse den Eindruck, fortan würde in Budapest an 365 Abenden im Jahr nichts anderes mehr als die Nationalopern von Zoltán Kodály und Ferenc Erkel aufgeführt. Die deutschen Intendanten riefen anläßlich einer Konferenz einstimmig zum Boykott auf. Tatsächlich ist in Budapest vieles anders als bei uns. Der Richtigkeit halber wäre hinzuzufügen, anders als es bei uns heute ist. Denn bis vor dreißig Jahren gab es keinen Unterschied. Ob die Veränderung einen Gewinn darstellt, läßt sich heute in den seltensten Fällen feststellen. Die Verhältnisse in der Kultur- und Hochschullandschaft sind in der Breite so gründlich planiert, daß es kaum mehr Kritiker gibt. Jeder rettet sich, so gut er kann.

Der ungarischen Kulturpolitik gilt allein darum der Dank, daß hier einmal ein Vergleich möglich wird. Die Aufnahme der Fakten beginnt damit, das nahezu jeden Abend in beiden Häusern eine Vorstellung gegeben wird, im prunkvollen Gebäude des königlichen Opernhauses am Andrássy-Boulevard und in der Volksoper, dem Erkel-Theater nahe dem Ostbahnhof. Demnächst eröffnen in einem früheren Ausbesserungswerk für Straßenbahnen neue Werkstätten mit Probebühne und Ausbildungsplätzen.

Auch im Marketing werden in Budapest alle Saiten angeschlagen. Die Internetpräsenz kann als beispielhaft gelten. Ein Image-Film, dessen traumtänzerische Attitüde eine fantasyverliebte Generation zur Begegnung mit der fantastischen Welt der Bühne lockt, gewann zum Festival in Cannes voriges Jahr einen Preis. Oper und Ballett sind weder ein Museum noch Laboratorium, sondern öffentliches Vergnügen für alle.

Nebenbei werden die Massen, das Volk, auf die Höhen der Kultur geführt und dabei sittlich veredelt. Das darf freilich nicht schulmeisterlich geschehen, sonst merkt es die Absicht und ist verstimmt. Die Erkenntnis wird als sinnlicher Genuß inszeniert. Entsprechend dominieren die Erfolgsstücke der großen Italiener den Betrieb in Budapest. Es kommen in dieser Saison 33 Premieren und 39 Repertoirestücke zur Aufführung. Darunter je siebenmal Verdi und Puccini, sechsmal Mozart und immerhin dreimal Wagner. Hinzu kommen Webers „Freischütz“, Tschaikowskis „Pique Dame“, „Rake’s Progress“ von Strawinsky und „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss.

Daneben finden durchaus auch kühne Erweiterungen des Repertoires statt. Als ungarische Erstaufführung werden des Deutsch-Italieners Ermano Wolf-Ferrari veristisches Meisterwerk „Sly“ sowie Aribert Reimanns „König Lear“ zu erleben sein. Auf diese Weise können Besucher von September bis Juni in die Oper gehen und immer etwas Neues sehen. Sommers finden Freiluftveranstaltungen auf der Margareteninsel statt.

Seit diesem Frühjahr arbeitet der Regisseur Géza M. Tóth daran, Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ auf die Bühne zu heben. Der gelernte Animator Tóth wurde vor zehn Jahren mit einem sehr schwarz-humorigen Kurzfilm „Maestro“ für einen Oscar nominiert. Es lohnt, die fünfminütige Animation auf Youtube anzusehen, um mit der illusionslosen Grundhaltung des Regisseurs gegenüber dem musikalischen Schaubetrieb vertraut zu werden.

Animationsfilme sind auch im sonst recht sparsam ausgestatteten Bühnenbild des „Rheingold“ bestimmend. Zwei hintereinander angebrachte Vorhänge nehmen die bewegten Lichtbilder auf, das heißt, der vordere läßt sie zugleich durch. Dazwischen spielt sich die Handlung ab. Am eindrucksvollsten ist die Szene in Alberichs (Marcus Jupither) Nibelungen-Welt. Wie ein Militärdiktator sitzt er in einem Haufen von kostbarem Gerümpel, bar jeden Stils, wie eine mit Gold überzogene Sperrmüllsammlung. Zwei Pfeiler im Bühnenhintergrund teilen den Film in ein Triptychon. Verzerrte Bilder von Armensiedlungen, Hochhäusern, Containern, Wellblechhütten und Wäscheleinen werden dort widergespiegelt.

Ein starkes Symbol nationaler Besinnung

Was an sich nicht sonderlich originell klingt, fügt der Regisseur doch mit ästhetischem Instinkt zusammen. Die Bilder sind stimmig und stärken die Handlung. Mit Erda (Erika Gál) steigt dann gleich eine ganze silbern-weiße Welt der Reinheit empor. Sie trägt Weiß, wie auch Wotan, und läßt Sand von einer Hand in die andere rieseln. Zuletzt nimmt sie Wotan den Speer und reicht ihn ihm wieder. Géza M. Tóth findet eine überzeugende visuelle Wirkung für den Regenbogen, über den die Götter in Walhall einrücken. Sobald die Gestalten in den Schein einer parallel hintereinander projizierten farbigen Scheibe eintreten werden sie zu Schattenrissen.

Das Schlußbild der triumphierenden Götterwelt ist ein Mosaik aus Ladenregalen in der Art des Fotografen Andreas Gursky. Eine Schar von Komparsen stürmt mit Einkaufswagen die Bühne. Die Rheintöchter fügen sich Loges (Eröd Adrian) Rat, indem sie Konfetti über das Treiben werfen.

Außer dem schwedischen Baßbariton Jupither sind alle anderen Sänger Ungarn. Judit Németh als Fricka ist längst auswärts eine gefragte Wagner-Sängerin, so in Bayreuth und Mannheim.

Um den Budapester Kulturbetrieb braucht man sich wenig Sorgen zu machen. Es scheint dort nichts anderes geschehen zu sein, als daß alles vom Kopf wieder auf die Füße gestellt wurde. Nun ist die Subkultur wieder sub und die Hochkultur auf der Höhe der Zeit. Durchbrüche scheinen jederzeit möglich, wenn Talent und Vitalität dazu ausreichen. Den Heulsusen einer staatlich alimentierten und vom Feuilleton beklatschten Trash-Kunst mag das wenig zusagen.

Zufällig besuchte ich eine Vorstellung am 4. November, ohne die Bedeutung dieses Datums für Ungarn zu bedenken. Es handelte sich um eine Generalprobe zur Wiederaufnahme, die eben am Jahrestag der blutigen Niederschlagung des Aufstands von 1956 stattfand. Zum Publikum waren besonders Rentner und Auslands-Ungarn eingeladen. Anders als in Dresden, wo ein anti-nationales Statement als riesiger LED-Bildschirm die Fassade des Semperbaus verunstaltet, wurde in Budapest ein starkes Symbol nationaler Besinnung auf die Bühne projiziert. Zur Musik aus dem 2. Satz von Beethovens 7. Sinfonie sucht ein Blutrinnsal seinen Weg durch die Fugen des Straßenpflasters. Dann geht für einen Moment das Licht gedämpft wieder an, bevor das Ochester unter Péter Halász mit dem Rauschen der Fluten des Rheins einsetzt.

Am 6. März 2016 wird in Budapest Wagners „Ring“ mit der „Walküre“-Premiere fortgesetzt. Auf der Besetzungsliste stehen die berühmte US-Sopranistin Linda Watson als Brünnhilde und Sebastian Pilgrim als Hunding.

Ungarische Staatsoper im Netz auf englisch:  www.opera.hu