© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

Frankreichs Apostel der Auflösung und des Chaos
Zu Georges Bataille und Michel Foucault: Eine Dekonstruktion der postmodernen Multikulti-Ideologie
Dirk Glaser

Es war nicht zu erwarten, daß jemand wie Georges Bataille, der heranwuchs, während der blinde, gelähmte, syphilitische Vater bei lebendigem Leib langsam verfaulte, und der seine schwer depressive Mutter zweimal vor dem Selbstmord bewahren mußte, ein allzu sonniges Gemüt entwickeln würde. Daß der 1897 geborene Sozialtheoretiker und Verfasser pornographischer Erzählungen allerdings zum Apostel des Chaos, zum Prediger der Zerstörung alles Bestehenden und zur Ikone des postmodernen Multikulti-Nihilismus aufsteigen konnte, war in diesen düsteren biographischen Anfängen nicht zwingend angelegt.

Warum der Esoteriker Bataille, der im französischen Bibliotheks- und Archivdienst eine eher unauffällige Existenz führte, der im Pariser Intellektuellenzirkus nur eine Nebenrolle spielte und dessen okkultes Werk nach seinem Tod (1962) in Vergessenheit geriet, trotzdem seit den 1980ern als geistiger Pate von Diversity- und Gendertheorie reüssierte, ist Thema der tief in die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts eintauchenden Untersuchung über diese totalitäre „Ideologie der Tyrannei“, die der italoamerikanische Politikwissenschaftler Guido Giacomo Preparata nun in deutscher Übersetzung vorlegt.

In neun Kapiteln unterteilt, versucht Preparata Licht in unsere „geistige Situation der Zeit“ (Karl Jaspers) zu bringen, indem er die Genealogie ihres infantilen Diskurses zu „Buntheit und Vielfalt“  zurückverfolgt bis zu der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden enthusiastischen Rezeption religionshistorischer und ethnologischer Studien zu matriarchalischen, dionysischen Kulten. Für den religiös überaus musikalischen Bataille, der als zum Katholizismus konvertierter Abiturient erwog, Priester zu werden, der aber seit 1920 nicht mehr zur Beichte ging und dessen Kirche fortan das Bordell war, öffnete sich mit der altertumswissenschaftlich erschlossenen Überlieferung antiker Kulthandlungen eine Fluchttür aus dem „stählernen Gehäuse“ (Max Weber) der technisch-industriellen Moderne. Sex und Gewalt, Promiskuität und Menschenopfer bei vorhomerischen Völkerschaften schienen in ihrer Ursprünglichkeit Befreiung aus bürgerlichen Ordnungsmustern, aus Entfremdung und Entzweiung jenes Maschinenzeitalters zu versprechen, das dieser pessimistische Gnostiker nur als weitere Variante einer am Anfang aller Tage schon mißlungenen Schöpfung begriff.  

Ohne Gespür für die grotesk-komischen Züge seines „Projekts“, stilisierte er sich darum zum Wiedererwecker prähistorischer Praktiken orgiastischer Gewalt. Um es nicht bei der Theorie zu belassen – der surrealistisch inspirierte Bataille wollte, wie Preparata betont, schließlich „wirken“ und „bekehren“ – gründete der De-Sade-Verehrer 1936 in Paris eine Geheimgesellschaft, zu deren Totem er ein kopfloses Monster erkor („L‘Acéphale“) und deren Satzung ihre Mitglieder auf die „Zerstörung der Welt“ verpflichtete. 

Von den dort versammelten Künstlern und Literaten, „muffigen Kleinbürgern“, wie Preparata höhnt, wollte sich freilich niemand als Menschenopfer zur Verfügung stellen, so daß man mit einer Ziege vorliebnahm. Bataille dürfte spätestens nach diesem Fehlschlag mit seiner „Bruderschaft von Dilettanten“ klar gewesen sein, wie aussichtslos es war, mit solchem sektiererischen Theater Proselyten zu werben. Nachdem auch ein Flirt mit Mussolinis Faschismus die realpolitische Durchschlagskraft seiner regressiven Utopie nicht erhöht und sich dieser potentielle Bündnispartner 1945 ohnehin endgültig verabschiedet hatte, beschied sich Bataille damit, den „Diskurs der Vernunft“ zu „vergiften“. 

Es galt die Normalität des „Homogenen“, verfestigt im Staat, in Ehe, Familie, Religion, Moral und Sprache zu „dekonstruieren“. Literatur sollte an den Tabubruch gewöhnen und zur Übertretung („Transgression“) des Repertoires bürgerlicher Verbote anstiften, um die „Homogenität“ vom Rand des „Heterogenen“ her aufzulösen, wo die „Ausgegrenzten“, „Verfemten“, „Diskriminierten“ hausten.

Bis zu Batailles Tod ließ der angestrebte Bewußtseinswandel jedoch auf sich warten. Und obwohl „weichere“ kulturrevolutionäre Konzepte schon am Horizont auftauchten, standen die sechziger Jahre noch ganz im Zeichen orthodox-marxistischer Visionen von Systemüberwindung, die sich bekanntlich nicht an antiken Gewaltkulten orientierten. Erst als der quicklebendige Kapitalismus der studentisch inszenierten „Weltrevolution“ widerstanden hatte und auch der ferne leuchtende Glanzlack des sowjetischen, chinesischen oder kubanischen Realsozialismus abzublättern begann, schlug wieder die Stunde Batailles.

Sein Landsmann Michel Foucault (1926–1984) formte aus dessen Mischung von „dionysischen Delirium“ und „Sakralsoziologie“ eine sozialhistorisch unterfütterte, zeitkonformere Kritik an homogener Normalität. Seit der Frühen Neuzeit, so glaubte der Zögling Pariser Eliteschmieden beweisen zu können, perfektionierten die westeuropäischen Nationalstaaten in ihren Gefängnissen und Irrenhäusern die Technik des Überwachens und Strafens. Wie unter Laborbedingungen lasse sich an der Disziplinierung von Verbrechern und psychisch Kranken studieren, daß letztlich jedes Subjekt „vermachtet“ und dem Ausbeutungsmechanismus einer Gesellschaftsstruktur ausgeliefert werde, die alle sozialen Beziehungen durch Markttransaktionen vermittle.  

Foucault, für Preparata kein origineller Denker, sondern nur ein geschickter Plagiator und Arrangeur Bataillescher Ideen, avancierte zum „Erzbischof der Gegenmacht“, weil er in Frankreich und als Gastprofessor in den USA im linken Milieu ein geistiges Vakuum füllte. Anstelle des abgewirtschafteten Marxismus bot sich Foucaults Postmodernismus als neue Heilslehre an, um eine „bessere Welt“ nunmehr ohne Klassenkampf und Revolution zu erreichen. Darin lag ein Versprechen, das in den USA nicht nur linke Sinnbedürfnisse stillte. 

Dominanz der herrschenden Normalität brechen

Als Foucault in Berkeley lehrte und in den Badehäusern der Homosexuellen von San Francisco sadomasochistische Zerstreuung suchte, hatte mit Ronald Reagans Präsidentschaft soeben der Siegeslauf des globalisierten Neoliberalismus begonnen. Auch dessen Radikalisierung der Umverteilung von unten nach oben verlangte nach ideologischer Legitimation. Foucaults Tabubruch-Mantra bediente daher pünktlich die Erwartungen beider, des linksliberalen wie des neokonservativen Lagers. 

Seine „Mikrophysik der Macht“ verschaffte den Linken die Illusion, durch sprachkosmetische Political Correctness, Steigerung von „Differenz“ und Erfindung zahlloser „diskriminierter Minderheiten“ bis hinab zur sich selbst ausgrenzenden individuellen Verhäßlichung mittels Piercing und Tätowierung, die Dominanz der herrschenden Normalität brechen zu können. 

Den Neocons hingegen gefiel die Botschaft des, wie Batailles Mutter, suizidgeneigten Franzosen, dem nichts ferner lag, als Rezepte zur Minimierung weltweiter Ungerechtigkeiten auszustellen, weil sein Kult des Außenseitertums und sein das Faktische vernebelndes Geschwätz über „Wahrheitsspiele“ die wirklichen Machtverhältnisse in der US-Plutokratie nicht thematisierte. 

Getreu der Maxime „Teile und herrsche“ verwirrte die postmoderne Politik der Verschiedenheiten vielmehr den kollektiven Geist und lenkte das reformerische Potential auf den Kindergarten von Gender und Dekonstruktion ab, wo man in diskursiven Endlosschleifen Gott, das Patriarchat und den sexistischen Rassismus „weißer eurozentrischer Männer“ anklagte. Seit Jahrzehnten verschwenden US-Studenten und inzwischen auch ihre europäischen Kommilitonen mit derartig desorientierenden Belanglosigkeiten ihre Lebenszeit, ohne je in einem Seminar über die „tatsächliche Zusammensetzung, Funktionsweise und Geschichte der politischen und finanziellen Elite des Westens“ oder die „Hierarchien der tatsächlichen Macht“ aufgeklärt zu werden. 

Eine besser funktionierende Herrschaftsabsicherung, so lautet das Fazit von Preparatas Meisterwerk der Dekonstruktion des Dekonstruktivismus,  als den Multikulturalismus hätte sich der die „Normalität“ von Staaten und Grenzen zerstörende Universalismus der US-Finanzoligarchie gar nicht aneignen können.

Guido Giacomo Preparata: Die Ideologie der Tyrannei. Neognostische Mythologie in der amerikanischen Politik. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2015, broschiert, 311 Seiten, 39,90 Euro