© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

Max Frisch, der Prophet
Literaturwissenschaft aktuell: Biedermänner und -frauen geraten mit ihrer „Refugees welcome“- Trunkenheit zum Brandstifter
Günter Scholdt

Jean Raspails „Heerlager der Heiligen“ und Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, beides hellsichtige Prognosen bzw. Analysen der europäischen Migrationskrise, ist bereits in den Feuilletons gedacht worden. Eine weitere Katastrophenschau bietet Max Frischs Drama „Biedermann und die Brandstifter“. 1958 bei der Zürcher Uraufführung galt es als Warnung vor kommunistischer Subversion – Frisch diente die Machtübernahme der Stalinmarionette Klement Gottwald und seiner KP nach dem Februarumsturz in der Tschechoslowakei 1948 als Vorlage –, in der Bundesrepublik vor allem als NS-„Bewältigungs“-Stück. Momentan überzeugt dieses vielfach ausdeutbare Sozialmodell jedoch als Bedrohungsdiagnose der Masseneinwanderung.

Zur Story: Gottlieb Biedermann, dessen geschäftliche Rücksichtslosigkeit einen Partner in den Selbstmord treibt, ist nicht Manns genug, Brandstiftern, die schon bald als solche erkennbar sind, sein Haus zu verbieten. Ein Zirkusringer ist der erste, der sich nicht abweisen läßt, indem er effektvoll die soziale Mitleidskarte spielt, später einschüchternd seine Körperkräfte erwähnt. Ungefragt zieht er andere nach. Dem „Hausherrn“ wird bange, aber er verdrängt die Gefahr und biedert sich an. 

Auch als seine Bewohner Benzin unterm Dach lagern und Sprengschnüre befestigen, wagt er keine Konfrontation und betäubt sich mit Schlaftabletten. Er will nur noch seine „Ruhe“ haben und meidet nun den Stammtisch, um sich vor prekären Nachrichten abzuschotten. Selbst den Besuch der Polizei nutzt er nicht, läßt sie ungerügt verhöhnen („Wenn das kein Polizeistaat ist.“). 

Unheilsspirale aus Angst, Anpassung und Selbstbetrug

Stattdessen sucht er die „Gäste“ durch ein üppiges Mahl zu bestechen. Das findet mit großem Verbrüderungspomp statt, hält aber das Verhängnis nicht auf. Mehr noch: Biedermann wird sogar genötigt, Streichhölzer zur Katastrophe beizusteuern. Wenig später fliegen ihm die Trümmer seiner Villa um die Ohren, und die ganze Stadt lodert lichterloh. Zuvor erschien noch ein Dr. phil. als „Weltverbesserer“, der das von ihm mitverursachte Desaster erst wahrnimmt, als es unaufhaltsam geworden ist.

Das bedrückend Provozierende des Stücks liegt in der schonungslosen Veranschaulichung jener Unheilsspirale, geformt aus instrumentalisierter Schuld, Angst, Anpassung und Selbstbetrug. Frisch erspart uns keine von Biedermanns fatalen Bewußtseinsdeformationen, darunter als vielleicht schlimmste (leicht aktualisierbare) seine angstgesteuerte zunehmende Realitätsverweigerung, die bereits Sinnesorgane verkümmern läßt. Schon an den „bösen Geruch“ gewöhnt, riecht er das Benzin im Haus nicht mehr, wie er Zündschnur, Sprengkapsel oder das Faktum ausblendet, daß alle Eindringlinge von ihren abgebrannten ehemaligen Arbeitsstätten berichten oder im Gefängnis waren.

Insofern können sich die Verschwörer die „nackte Wahrheit“ leisten, da sich Biedermann alles schönredet und selbst makabre Scherze seiner Besatzer beklatscht. Schließlich sei er doch kein ängstlicher „Spießer“. Auch seiner Frau läßt er die entsprechende Gehirnwäsche angedeihen („Wenn die wirkliche Brandstifter wären, du meinst, die hätten keine Streichhölzer?“). Statt zu handeln, bemäntelt er seine Feigheit und schwatzt von notwendiger „Vertrauens“-Kultur, was der Chor kommentiert: „Blinder als blind ist der Ängstliche, / Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse, / Freundlich empfängt er’s, / Wehrlos, ach, müde der Angst, / Hoffend das beste … / Bis es zu spät ist.“

Welche Lehre unterlegt der Verfasser diesem – laut Untertitel – „Lehrstück ohne Lehre“? Daß das Unheil nicht schicksalhaft, sondern vermeidbar war, nicht zu begründen mit „Sodom und Gomorrha“ oder „himmlischer Strafe“, sondern mit bürgerlichem Versagen. Daß, wer Umorientierung scheut, wenig ausrichtet, und wer sich nur in seinem „schlechten Gewissen“ suhlt, zwangsläufig vieles übersieht, das nur der „nicht merken kann“, der „eine Heidenangst“ hat.

Und natürlich lassen sich alle fatalen Verhaltensweisen in Frischs Politmodell unschwer aktualisieren und auf unsere „regierenden“ politischen Schwadroneure übertragen. Die Skala des Vergleichbaren reicht vom medialen Verschweigekartell systemkritischer Nachrichten über die vor allem rhetorisch bewältigte Krise bis zu grotesken Auswüchsen einer Willkommenskultur.

Als ideelles Einfallstor dient ein Begriff von (scheinbar) universellem Wert: „Menschlichkeit“. Daß es an ihr mangelt, kann ständig moniert werden in einer Epoche, die zumindest vom Prinzip her sozialen Postulaten folgt und von daher strukturell schlechtes Gewissen produziert: im Weltmaßstab ablesbar an Stichworten wie „Kapitalismus“, „Kolonialismus“, „Imperialismus“ oder „Rassismus“. Bezeichnenderweise ist Herr Bieder- in seinen Geschäftspraktiken kein Saubermann. Gleichwohl legt er Wert darauf, nicht als „Unmensch“ zu erscheinen.

Eine innerlich akzeptierte moralische Paria-Rolle

Vielfach steuert das schlechte historische Gewissen die Reaktionen und bietet sich bei zahlreichen Biedermännern und nicht zuletzt -frauen unserer Tage zur Ausbeutung trefflich an. Wohl dürfen wir Bewohner der Wohlstandsoasen die darbenden restlichen Massen nicht ignorieren. Wir müssen zwingend intelligentere und faire Lösungen internationaler Zusammenarbeit finden, den vorwiegend Industriestaaten nützenden Konkurrenzdruck mildern, der etwa Afrikas Landwirtschaft und Fischerei weithin zerstört hat, oder die Länder der Dritten Welt wenigstens vor gängigen militärischen „Befreiungen“ verschonen. Aber man hilft keineswegs diesen Regionen, wenn man dessen Slums und Überlebenstechniken nach Europa verlagert. Und schon gar nicht, wenn man Gefahren systematisch bagatellisiert.

In Deutschland kommt noch die ideologische Bewirtschaftung der jüngeren Vergangenheit hinzu. Ihr folgt jenes hysterische Bedürfnis, der jahrzehntelang innerlich akzeptierten moralischen Paria-Rolle auf einen Schlag zu entschlüpfen, indem man sich als Gutmenschen-Klassenprimus zeigt. Und alle charakterisiert jene prekäre Mischung aus Angst, humanitär verbrämter Kapitulation, Ausblenden der Bedrohung bis hin zur Aggression gegen Aufklärer, die den Bürger aus seiner Ruhe und den Harmoniesüchtigen aus seiner Multikulti-Idylle reißen.

Einwanderungsgesellschaften sind „Konfliktgesellschaften“, wußte noch die einstige Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen. Doch hierzulande prügelte man lieber auf Sarrazin, Buschkowsky oder einen medial verleumdeten Pirinçci ein wie Despoten auf die Überbringer schlechter Nachrichten. Besser nicht reden von kaputten Schulen, Paralleljustiz, Jugendgangs, extremistischen Islamismus-Rekruten oder Terrorismus-Importen. Dabei haben sich nicht wenige Städte oder Stadtteile bereits in Krisengebiete verwandelt mit einem unerklärten Vorbürgerkrieg, der periodisch in Paris, London, Liverpool, Malmö, Neukölln oder Stockholm zu (telegenem) Ausdruck gelangt und die Brand-Metaphorik des Dramas buchstäblich beglaubigt. 

Migration ist vor allem eine Frage der Quantität 

Doch auch jetzt noch beschwichtigen wir, warnen davor, Einwanderung mit solchen Horrorszenarien demagogisch zu vermischen. Und natürlich tut Differenzierung not. Flüchtlinge sind nicht schlicht Terroristen, und nicht alles muß enden wie bei Frisch. Migration ist im Leben der Völker ein weithin unspektakulärer Vorgang und vollzieht sich zuweilen geräuschlos zum Nutzen der Einheimischen. Man denke etwa an Deutschlands Hugenotten, Italiener oder Polen, wichtige Faktoren industrieller Entwicklung. Einst trugen halbe Fußballnationalmannschaften Namen wie Turek, Tilkowski, Szymaniak, Cies-larczyk oder Juskowiak – beste Vertreter unseres Landes, die übrigens noch des Singens unserer Hymne fähig und willens waren. Und sollten nicht auch Türken, Araber oder Afrikaner hier Heimat und Aufgabe finden können?

Jeder Verständige kennt aber auch die Bedeutung übereinstimmender Kultur- respektive Religionsstandards. Und er weiß, daß hier keine Grundsatz-, sondern eine Quantitätsfrage vorliegt, daß erst die Überdosis manche Medizin in Gift verwandelt. Annäherung braucht Zeit, keine schnelle Überwältigung als Bevölkerungsaustausch. Wer all dies mißachtet, handelt als Ideologe, der Katastrophen leichtfertig in Kauf nimmt. Vor allem aber darf respektive durfte ein Fundamentalsatz nie vergessen werden: „Dies ist mein Haus. Hier bestimme ich, wem ich Eingang gewähre und Menschlichkeit zeige.“ 

Insofern gilt die rote Karte jener Hilflosigkeit von Regierungsdarstellern, die ihre Grenzen (angeblich) nicht zu schützen wissen, Fremde unkontrolliert einreisen lassen. Man kündigt einer achtköpfigen Familie die Wohnung, um darin nun Fremde unterzubringen, oder geriert sich in beispielhafter Arroganz wie Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke gegenüber asylkritischen Einheimischen, denen er, wenn es ihnen nicht passe, praktisch die Emigration nahelegte.

Solche postdemokratisch-obrigkeitsstaatliche Herrschaftskaste hat mit ihrem Volk niemals einen ernsthaften Dialog geführt, sondern nur moralisch gekeult, wo es im Bild des Schauspiels um die fundamentale Frage ging: „Wem gehört eigentlich mein Haus?“ Und schriebe ein heutiger Max Frisch das Drama neu, böte sich zur Kennzeichnung dieser „Elite“ im Verein mit ihren willfährigen Medien als veränderter Titel an: „Biedermann als Brandstifter“.






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß.

Foto: Der Schweizer Dramatiker Max Frisch 1972; Theaterplakat zu „Biedermann und die Brandstifter“: Dem Hausherrn wird bange, aber er verdrängt die Gefahr und biedert sich an