© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Mahnen und Fordern
Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.: In den 20 Jahren seines Bestehens entwickelte sich der Dachverband vom Anwalt für die Belange der Türken zum staatlich anerkannten Streiter gegen „Rassismus“
Lukas Steinwandter

Sie fordert, mahnt und bedauert. Geht es um die vermeintlichen  Interessen der cirka 2,5 Millionen Türken in Deutschland, nimmt die Türkische Gemeinde (TGD) kein Blatt vor den Mund. Zwar geht es der Lobbygruppe seit ihrer Gründung am 2. Dezember 1995 in Hamburg laut Satzung darum, die Belange und Interessen der Bürger türkischer Herkunft, die sich dauerhaft in Deutschland niedergelassen haben, in der Öffentlichkeit und gegenüber den staatlichen Institutionen wahrzunehmen und diese weiter auszubauen. Doch der Kampf um rechtliche, soziale und politische Gleichstellung ist nur eine Seite der Medaille.  

Zunehmend sieht die Gemeinde ihre Aufgabe darin, ihr Themenfeld zu erweitern. Entsprechend kritisiert sie aufs „schärfste“ die „polarisierenden und diffamierenden Aussagen von „Politiker/innen“. Gerade in einer Zeit, in der es „fast tagtäglich zu Angriffen auf Flüchtlingsheime“ komme, müßten Politiker mit „ausgrenzenden“ und „warnenden“ Äußerungen in der Flüchtlingspolitik vorsichtiger sein. „Pauschalisierende und diffamierende Aussagen“ wie die des Bundesinnenministers de Maizière – „Flüchtlinge würden Ärger machen und sich prügeln“ – würden diejenigen, die gegen ein „weltoffenes Deutschland und gegen die Aufnahme von Flüchtlingen“ seien, in ihrem Bestreben nur bestärken.

 „Nicht hinnehmbar“ sei zudem, daß die CSU, aber auch die SPD angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen in Deutschland von „Obergrenzen“ und „Überforderung“ sprächen und Bayerns Finanzminister Markus Söder gar das Grundrecht auf Asyl in Frage stelle. 

„Wichtiger als jemals zuvor“, so der stellvertretende TGD-Bundesvorsitzende Cebel Kücükkaraca, sei in diesem Kontext die Erinnerung an den Brandanschlag von Mölln am 23. November 1992. Mit Besorgnis betrachtet der Mitarbeiter der Programmkommission der Heinrich-Böll-Stiftung in Schleswig-Holstein, wie „Fremden- und Islamfeindlichkeit in breiten Teilen der Bevölkerung zunehmen. „Regelmäßig käme es zu Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und zu Gewaltakten gegenüber Menschen, die in unserem Land Schutz und Frieden“ suchten. „Mit Freude und Hoffnung“, so der Mathematiker, der 1982 nach Deutschland kam, blicke die Türkische Gemeinde dagegen auf die „deutsche Willkommenskultur durch die Tausenden von ehrenamtlichen Helfern, die sich für Flüchtlinge engagieren“. Sie seien „unsere gesamtgesellschaftliche Antwort auf rechtes Gedankengut und Gewalt“.

Sorgenvoll betrachtet der TGD-Bundesvorsitzende Gökay Sofuoglu vor diesem Hintergrund und angesichts der Ergebnisse der Europawahl 2014 den Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD). Der SPD-Politiker fordert die „übrigen Parteien auf, sich deutlicher von rechten Kräften abzugrenzen und sich diesen entgegenzustellen“. Überhaupt „brauche es eine andere Sprache in der Einwanderungspolitik“.

Partner und zugleich Kritiker der Bundespolitik

Klagen führt der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg (TBB), Mitgliedsbund in der TGD, zudem über die Implementierung des neuen Asylgesetzes, welches die Länder Albanien, Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsländer einstuft: Ein „bitterer Tag für das Asylrecht in Deutschland“. Aus Sicht des TBB sei dies „nicht hinnehmbar und unverantwortlich“, da sämtliche Menschenrechtsorganisationen in diesen Ländern Diskriminierung und Verfolgung feststellen würden. Und mit Blick auf den NSU-Prozeß in München, den die TGD akribisch verfolgt und zudem mit Vorlegung des hauptsächlich vom Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke erarbeiteten „Schattenberichts zum NSU-Ausschuß?“ aktiv begleitet, kommt diese zum Ergebnis: „Ja, es gibt institutionellen Rassismus. Es gibt Diskriminierung. Wir müssen das bekämpfen, auch durch Gesetze.“ 

Trotz der vielfältigen und grundlegenden Kritik ist die TGD akzeptierter Partner staatlicher Programme und geförderter Integrationsprojekte, die neben Mitgliederbeiträgen die TGD-Arbeit finanzieren. Sie ist Mitglied der Deutschen Islam-Konferenz (DIK) und führt den „integrationspolitischen Dialog mit der Kanzlerin“. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgelegten Programms „Demokratie leben“ entwickelt die TGD „Empowermentstrategien von Migrant*innen und Migrantenorganisationen“. Explizit fördert das Programm nichtstaatliche Organisationen, die in den Bereichen Demokratieförderung sowie „Bekämpfung von Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit bundesweit tätig“ sind. Ziel ist hier unter anderem die Vernetzung von Migrantenorganisationen auf Bundesebene sowie   die Fortbildung in den Bereichen der Projektentwicklung, des Projektmanagements und des Zuwendungsrechts.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) zeigte sich bei einem Treffen mit TGD-Funktionären im Januar begeistert: „Dieser Dialog ist für mich ein zentrales Anliegen, um die Zusammenarbeit weiter zu professionalisieren und die Vernetzung untereinander zu optimieren. Darin sehe ich auch eine wichtige Aufgabe, um die sich das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend kümmert.“

Aktiv ist die TGD in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Bundesprogramm „Mein Land – Zeit für Zukunft“. Es soll in erster Linie außerschulische Bildungsmaßnahmen, insbesondere auf dem Gebiet der kulturellen Bildung, fördern und so bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung unterstützen. 

Auch bei der Unterzeichnung der Erklärung zur künftigen „Darstellung von kultureller Vielfalt, Integration und Migration in Bildungsmedien“ war die bildungspolitische Sprecherin der TGD, Bilge Yörenç, vertreten. Die Kultusminister der Länder, die Organisationen der Menschen mit Migrationshintergrund und Bildungsmedienverlage hatten sich Mitte Oktober auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Die Bildungsmedienverlage verpflichten sich hierbei laut TGD in Text und Bild auf eine „differenzierte Darstellung von Lebenswirklichkeiten“. Hierzu gehörte beispielsweise das „kritische Hinterfragen der eurozentristischen Sichtweise, die differenzierte Darstellung von Religionen und Weltanschauungen oder auch die Thematisierung von Mehrsprachigkeit als Kompetenz“.

Flüchtlingsarbeit soll forciert werden

Partner und Kritiker zugleich. Für SPD- und Verdi-Mitglied Sofuoglu kein Problem. In der ersten Zeit ihrer 20 Jahre war die TGD die Interessenvertretung der Türken, erklärt er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Doch in der Zwischenzeit habe sie sich zu einem „sehr wichtigen Bestandteil der Antirassismus-, Menschenrechts- und Demokratiebewegung in Deutschland“ entwickelt. Die TGD vertrete nicht nur die Interessen der Türkischstämmigen, sondern auch die anderer Minderheiten. 

Seit vergangenem Jahr wird die Gemeinde von einer Doppelspitze geführt, bestehend aus Sofuoglu und der Integrationsbeauftragten der Stadt Lünen Aysun Aydemir. Der vorherige Vorsitzende, der lange Zeit synonym mit der TGD genannt wurde, Kenan Kolat, gab sein Amt 2014 nach neun Jahren überraschend auf. Aus gesundheitlichen Gründen, wie es damals hieß, verschwand er von der Bildfläche. 

Im Frühjahr dieses Jahres tauchte sein Name plötzlich wieder auf. Diesmal allerdings nicht in Form von Interviews oder Erklärungen in den Medien, sondern wegen schwerer Vorwürfe: In den Jahren 2012 und 2013 soll er Geld des Verbandes in Form von Barauszahlungen veruntreut haben. Kolat räumte dies ein, erklärte jedoch, es sei nicht „in böser Absicht“ erfolgt. Er zeigte sich im April wegen Untreue selbst an und entschuldigte sich für sein Verhalten. 

 In den ersten Jahren galt die Durchschlagskraft des Vereins allerdings als gering. Der Interessenverband konstituierte sich eher als lose Verbindung unterschiedlicher türkischer Vereine. Das änderte sich schlagartig, als Kenan Kolat 2005 den Vorsitz übernahm. Der Diplomingenieur wollte die TGD endlich von dem Vorwurf der Nähe zu den Sozialdemokraten entbinden. Er selbst machte allerdings nie einen Hehl daraus, selbst SPD-Mitglied zu sein. Kolat mußte sich auch einer weiteren Kritik erwehren. 

Sein Vorgänger, der Politikprofessor und ehemalige Bundestagsabgeordnete Hakki Keskin, vertrat staatstreue türkische Ansichten. Vor allem in bezug auf den Völkermord des Osmanischen Reichs an den Armeniern geriet der Kemalist mit der Aussage, „eine vorsätzliche Vernichtungsabsicht“ sei nie bewiesen worden, in die Kritik. Auch in der Ära Kolat wurde der Vorwurf, die TGD vertrete türkische Staatsinteressen, immer wieder laut. „Wir sind eine Lobby für Türken in Deutschland, und nicht mehr“, erklärte Kolat dem Berliner Tagesspiegel. 

In Zukunft, sagt Sofuoglu gegenüber dieser Zeitung, will sich die TGD mehr aktiv beteiligen, nicht immer nur reagieren. Also weniger Kritisieren und Bedauern, sondern sich „von dieser Defensivhaltung entfernen und wie vor den Bundestagswahlen 2013 in die Offensive gehen“. Die TGD war es, die im Herbst 2013 einen Vorschlag zur doppelten Staatsbürgerschaft eingebracht hatte. Darin forderte der Verband die Abschaffung der Optionspflicht, die besagte, daß sich Kinder von Einwanderern bis zum 23. Geburtstag für die Staatsangehörigkeit der Eltern oder die deutsche entscheiden mußten. Die Koalition schaffte die Optionspflicht für Kinder von Migranten, die bis zum 21. Geburtstag mindestens acht Jahre lang in Deutschland gelebt haben, ab.

 In Zukunft will die Lobbygruppe in der Flüchtlingsproblematik mit Positionspapieren und Thesen aktiv in die Debatte eingreifen. Zur Türkeipolitik wolle man sich nur äußern, wenn diese Menschenrechte verletzte. „Ein Schwerpunkt der TGD ist die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Gemeinschaft. Deshalb ist uns wichtig, den Demokratisierungsprozeß in der Türkei genau zu beobachten.“

Am 4. Dezember feiert die TGD unter dem Motto Partizipation und Vielfalt im Roten Rathaus in Berlin ihr 20jähriges Bestehen. 




Struktur und Mitglieder der TGD

Die Türkische  Gemeinde in Deutschland e.V.  mit Sitz in Berlin-Kreuzberg ist in elf Landesverbände sowie acht Berufs- und Fachverbände gegliedert. Darunter befinden sich so wohlklingende Vereine wie die Deutsch-Türkische Medizinergesellschaft, Bund türkisch-europäischer Unternehmer oder Bund Deutsch-Türkischer Studierenden und Akademiker. Wie viele Mitglieder die TGD insgesamt repräsentiert, ist unklar – der Verband führt darüber nicht Buch. Gegenüber dem Tagesspiegel erklärte der damalige Vorsitzende Kenan Kolat zum 15jährigen Bestehen der Gemeinde: „Wir haben bundesweit rund 300 Einzelvereine, deren Mitgliederzahlen zwischen 50 und 2.000 liegen.“ Der größte Mitgliedsverein ist der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) mit 30 Mitgliedsorganisationen und 75 Einzelmitgliedern. Der TBB steht in Konkurrenz zur Türkischen Gemeinde zu Berlin e.V., die nicht der TGD angehört. Eigenen Angaben zufolge ist dieser 1983 gegründete Dachverband türkischer Vereine mit 76 Mitgliedsvereinen die größte Dachorganisation türkischer Vereine in Berlin. Ihre dort ansässigen Mitgliedsvereine repräsentieren ihm zufolge rund 100.000 Türken.