© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/15 / 04. Dezember 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Scheitert der Flüchtling, scheitert Europa“ – doch mit Ironie ist in Deutschland nicht zu spaßen. So laufen in der Backfabrik Benefizlesungen unter dem Motto „Readings for Refugees“. Am Auftaktabend trägt zunächst David Wagner seine groteske Dystopie über „Die letzten Tage der Grünen Autonomen Republik Berlin (West)“ vor, gerade erschienen im Sammelband „Unbehauste. 23 Autoren über Fremdsein“ (Nicolaische Verlagsbuchhandlung). In Wagners Geschichte steht das von grünen Fundamentalisten regierte West-Berlin vor der Übernahme durch die DDR (Deutsche Digitale Republik), welche durch ihre Digitale Revolution den Westen längst überholt hat und ihre unsichtbaren Grenzsicherungen „Made in GDR“ in alle Welt exportiert, etwa nach Israel und den USA. Auf die Frage der Moderatorin, was er damit sagen wolle, zuckt Wagner die Schultern: „Weiß ich nicht, ich bin der Autor“, um schließlich doch zu warnen: „Man muß sich nicht darauf verlassen, daß die Geschichte einen immer auf der Seite der Sieger läßt.“ Jedenfalls, so Wagner, sei Deutschland bis heute „nicht zusammengewachsen – wegen der Leute im Osten, die gegen die Flüchtlinge sind. Deswegen sind wir doch hier!“ Sogleich setzt der erste Applaus ein. Den braucht es augenscheinlich, wenig später sekundiert die Moderatorin in den nur zu einem Drittel gefüllten Besucherraum: „Das ist so toll, daß ihr alle da seid, ihr dürft euch alle selbst ein wenig auf die Schulter klopfen.“

Für die 1984 in Baku geborene Olga Grjasnowa, die mit ihrer Familie als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland kam, ist derweil der Flüchtlingsbegriff fragwürdig, denn faktisch seien sie „die klassischen Wirtschaftsflüchtlinge“ – und Berlin nur ein bedingter „Zufluchtsort: wenn man Geld hat, die richtige, weiße, Hautfarbe und die richtige Staatsangehörigkeit“. Überdies sei der Begriff Heimat „schwammig“, vor allem aber „gemeingefährlich“, er diene dazu, Menschen auszuschließen. „Wenn in Deutschland davon die Rede ist, steht der nächste Weltkrieg bevor.“ Die Buchbox-Moderatorin pflichtet ihr bei, der Begriff „Flüchtlingskrise“ klinge „jetzt so fürchterlich“, sie versuche, das Wort ab sofort zu vermeiden.

Unverkrampft dagegen ist der musikalische Auftritt des Bühnenkünstlers und Comiczeichners Fil und dessen Fazit: „Wenn man nicht mehr sagen darf, daß die Ossis Nazis sind, dann ist das nicht mehr mein Land.“ Tatsächlich aber will er die „Nazis“ in die Gesellschaft integrieren, „vom Nazi zum Narzißten, vom Faschisten zum Fashionisten“.