© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Nicht radikal genug
Euro-Kritik: Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn hegt doch noch Hoffnung
Thorsten Polleit

Das Euro-Projekt läuft in die Sackgasse. Das ist die Botschaft des mehr als 500 Seiten umfassen-den Buches aus der Feder von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des Ifo-Instituts. Weitermachen wie bisher gehe nicht. Sonst drohten eine alle und jeden erdrückende Schuldenlawine und letztlich womöglich sogar eine Situation, in der sich „alle einander die Köpfe einschlagen“. Das sollte Grund genug sein, um sich mit Sinns Erkenntnissen genauer zu beschäftigen.

„Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel“, so der Titel der neuen Ausarbeitung: Kenntnisreich und dabei stets verständlich erklärt Sinn seinen Lesern, daß die Einführung des Euro in vielen Teilnehmerländern zunächst einen inflationären Kreditboom entfacht und dabei ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit ruiniert hat. Die betroffenen Länder müßten sich nun, um wieder auf die Beine zu kommen, einer Deflation unterziehen. Weil das aber politisch nicht durchsetzbar sei, sieht Sinn für sie nur eine Möglichkeit: Sie müssen zumindest zeitweise aus dem Euro austreten.

„Jeder muß für die Folgen seiner Taten einstehen“

Den Hauptgrund der Euro-Misere sieht Sinn in der „Aufweichung der nationalen Budgetbeschränkungen der jetzigen Krisenländer vor und während der Krise“. Daß die Regierungen gegen die „No-Bail-out“-Klausel im Maastricht-Vertrag verstoßen, zerstört „auch einen Grundpfeiler einer funktionierenden Marktwirtschaft, nämlich das Prinzip, daß ein jeder für die Folgen seiner Handlungen einstehen muß“. Die „Rettungspolitiken“ sorgen dafür, daß die Steuerzahler für die Mißwirtschaft anderer Länder einstehen müssen. Die Regierungen haben in ihrem „Rettungswahn“ die Bürger also in eine parlamentarisch abgesegnete Geiselhaftung genommen, und zwar spätestens mit der Etablierung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM).

Mit Blick auf die Schuldensozialisierung erwähnt Sinn ein Lehrstück aus der Geschichte: Der erste amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton machte die Schulden der Bundesstaaten, die zur Finanzierung des Sezessionskriegs aufgenommen worden waren, zu Bundesschulden, in der Hoffnung, diese Maßnahme würde die Union zusammenschweißen. Verlockt von der Aussicht, auch künftig ihre Schulden auf den Bund abladen zu können, verschuldeten sich hernach viele Bundesstaaten heftig. Auf den Kreditboom folgte der Niedergang. Bundesstaaten gingen reihenweise pleite. Der ESM ist, so kann der Leser schließen, also keine Lösung, sondern vielmehr ein Problemverstärker.

Seit Ausbruch der Krise sorgen die Target-2-Überziehungskredite für eine gigantische Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen den Euroländern – ein wirklich perfider Raubzug, den Sinn frühzeitig öffentlich entlarvt hat. Sie bedeuten, daß die EZB mit ihrer elektronischen Notenpresse die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer finanziert. Vereinfacht gesprochen, haben die Steuerzahler aus Ländern mit einem positiven Target-2-Saldo – wie Deutschland, die Niederlande und Finnland – das Nachsehen, die Steuerzahler aus Ländern mit einem negativen Target-2-Saldo – wie in Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Frankreich – profitieren.

Übrigens waren die Target-2-Exzesse bisher für die deutsche Exportwirtschaft alles andere als nachteilig. Die deutsche Exportindustrie hat seit Anfang 2008 einen Überschuß gegenüber dem Rest des Euroraums und dem Rest der Welt von insgesamt 474 Milliarden Euro erzielt. Das entsprach in etwa der Zunahme der deutschen Target-2-Forderungen von 461 Milliarden Euro. Etwa 97 Prozent des deutschen Exportüberschußwunders wurden also von der EZB mit neu geschaffenen Euro finanziert, so Sinn. Ohne die EZB wäre der Erfolg für die deutsche Gewinn- und Beschäftigungslage wohl nicht möglich gewesen.

Sinn hadert nicht, beim Anleihekauf-Programm der EZB im Verbund mit den Target-2-Überziehungskrediten Roß und Reiter zu nennen: „Die gemeinsame Druckerpresse wird benutzt, um die Staaten in gemeinsamer Haftung zu finanzieren. Das alles passiert nicht direkt, sondern auf hinreichend verschlungenen Wegen, um die Öffentlichkeit irrezuführen und den eigenen Juristen Scheinargumente für eine wirksame Verteidigung zu liefern.“ Sinn macht auch auf die mittlerweile gefährliche Machtansammlung bei der EZB aufmerksam. Vor allem weil „diese Institution in der Lage ist, zukünftige demokratische Entscheidungen zu präjudizieren, indem die fiskalischen Politikoptionen für die nationalen Parlamente eingeschränkt“ würden.

In der angestrebten Bankenunion sieht Sinn ein „System zur Kontrolle von Banken und einer partiellen Vergemeinschaftung ihrer Abschreibungslasten“. Für ihn ist sie nicht etwa eine Versicherung, sondern in erster Linie eine Umverteilungsmaßnahme, „weil der Schaden schon eingetreten ist, bevor der Versicherungsvertrag geschlossen wurde“. Das erklärt auch den enormen politischen Druck, der von den französischen, spanischen und italienischen Regierungen auf Deutschland ausgeübt wurde, so Sinn: Ohne die Zustimmung Deutschlands zur Verlusthaftung würde auch noch das letzte bißchen Vertrauen in Banken aus den Krisenländern verpuffen.

Mit seinem Buch hat Sinn die bisher wohl umfangreichste Chronik und Analyse der Probleme der Euro-Konstruktion vorgelegt. Sinn benennt aber nicht nur die Probleme. Er bietet auch Lösungen an. Hierzu zählen beispielsweise der zeitweise Austritt einzelner Länder aus dem Euroraum, Schuldenschnitte und das Verhindern einer dauerhaften Haftungs- und Transferunion. Für den Leser könnte der Eindruck entstehen, durch mutige Reformen, durch das Vereinbaren von besseren Regeln, wie Sinn sie vorschlägt, ließe sich die brisante Situation vielleicht entschärfen und zu einem guten Ende führen. Doch das wäre trügerisch.

Sinn verbleibt mit seinen Analysen letztlich doch auf der Ebene der Krisensymptome. Die zentrale Krisenursache kommt nicht zur Sprache: daß nämlich der Euro ein ungedecktes Geld ist, das jederzeit und in beliebiger Menge von der EZB geschaffen werden kann. Solch ein „Fiat-Geld“ bringt wirtschaftliche und politisch-ethische Probleme. Das ist in der ökonomischen Theorie seit langem bekannt. Der Fiat-Euro führt nicht nur zu Kreditbooms und -busts. Er leistet vor allem auch einer ungeahnten Ausweitung des Staatsapparates Vorschub, die bürgerliche und unternehmerische Freiheiten zurückdrängt und damit den Wohlstand aller schmälert.

Der Fiat-Euro ist kein Wegbereiter für Frieden und Wohlstand in Europa, für den ihn seine Befürworter halten und ausgeben. Im Gegenteil. Er ist eine der wohl wirkungsmächtigsten Triebfedern, die Europa immer tiefer in ein interventionistisch-sozialistisches Gestrüpp hineintaumeln läßt. Es gibt keine begründete Hoffnung, daß parametrische Reformen wie zum Beispiel eine „Neustrukturierung der Eurozone mit einer Konkursordnung, die das Prozedere für Schuldenschnitte im Verein mit einem temporären Austritt aus der Währungsunion und einem anschlie-ßenden Wiedereintritt regelt“, daran etwas ändern werden.

Sinn rüttelt nicht an den grundlegenden Glaubensätzen, die im politischen Raum fest verwurzelt sind. Auch nach all seiner fundamentalen Skepsis gibt er die „Hoffnung für den Euro nicht auf“. Mehr noch: Er würde sogar so weit gehen, die „Vereinigten Staaten von Eu­ropa“ zu fordern; und er bedauert, daß sie sich „leider“ nicht verwirklichen lassen, daß die EU „vorläufig ein Staatenbündnis ohne starke Zentralgewalt bleiben“ wird. Wie sich solch ein Plädoyer angesichts der aufgelaufenen Probleme ökonomisch rationalisieren läßt, bleibt im unklaren.

Und leider schweigt Sinn sich auch über die Gefahren einer weiteren politischen Zentralisierung aus. Die Alternative zur Zentralisierung, der produktive Wettbewerb der Regionen und Systeme, findet sich in Sinns Lösungsrepertoire nicht. Vielleicht, weil sie politisch als unrealistisch erachtet wird? Sie zu rehabilitieren und in die öffentliche Diskussion zurückzubringen, ist jedoch bitter nötig, wenn die Bürger im Euroraum eine friedvolle und prosperierende Zukunft haben sollen. Friede und Wohlstand sind dauerhaft ohne eine freie Marktwirtschaft nicht zu haben. Das erfordert, den Staat und seinen Einfluß auf das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben auf das stärkste zurückzudrängen. Und auch, das Geldmonopol des Staates zu beenden und einen Währungswettbewerb zuzulassen.

Doch diese ökonomischen Erkenntnisse geraten immer stärker in Vergessenheit. Vielen Politikern und auch Ökonomen mögen Sinns Empfehlungen daher zu radikal sein. Das aber wäre nicht sachgerecht. Wenn Kritik nötig ist, dann daran, daß sie nicht radikal genug sind.

 Öffentliche Abschiedsvorlesung von Professor Hans-Werner Sinn in München unter dem Titel „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert“

Montag, 14. Dezember 2015, 18 Uhr Große Aula der Ludwig-Maximilians-Universität, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München. Anmeldung über Presseabteilung@ifo.de erbeten.

Hans-Werner Sinn: Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel. Hanser, München 2015, gebunden, 560 Seiten, 24,90 Euro