© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Der König des Swing
Ol’ Blue Eyes: Frank Sinatra wäre hundert geworden
Markus Brandstetter

Gäbe es einen Nobelpreis der Popmusik, dann würde er vom amerikanischen Musikmagazin Rolling Stone verliehen werden. Diese schrille Zeitung veröffentlicht seit Jahrzehnten Listen mit den besten Alben aller Zeiten, meist nach Genres (Pop, Rock, Country) geordnet, aber es gibt auch eine Zusammenstellung der besten Alben aller Zeiten („500 Greatest Albums of All Time“) quer über die Genres hinweg. Auf dieser Liste ist der amerikanische Sänger Frank Sinatra gleich mit zwei Alben vertreten. Direkt neben den Beatles, Bob Dylan, den Rolling Stones, Elvis Presley, Bruce Springsteen, Elton John, Johnny Cash, Michael Jackson und all den anderen Größen der Rock- und Popmusik. 

Der Fall ist klar: Sinatra („The Voice“) ist aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik im 20. Jahrhundert nicht wegzudenken. Eine Plattensammlung mit den populärsten Alben des letzten Jahrhunderts müßte mindestens zwei oder drei seiner CDs enthalten – sonst wäre sie nicht repräsentativ. „Die Kunst des Frank Sinatra hat“, wie der österreichische Autor Johannes Kunz in einer neuen Biographie schreibt, „alles, was nach ihm kam, überdauert.“ Das ist ein erstaunlicher Triumph, wenn man bedenkt, welchen Verhältnissen Sinatra entstammte, und daß er weder getextet noch komponiert, noch ein Instrument gespielt hat, ja nicht einmal Noten lesen konnte.

Von der Schule geflogen, wurde er zum Teenager-Idol

Kunz beschreibt in seiner Monographie den gesellschaftlichen und künstlerischen Boden, auf dem das Talent eines Sinatra gedeihen konnte. Und auch dessen Beziehungen zu höchsten Kreisen der Politik – alle amerikanischen Präsidenten von Franklin D. Roosevelt bis Ronald Reagan suchten die Nähe zu Sinatra – spart Kunz nicht aus.

Geboren wurde Sinatra am 12. Dezember 1915 in Hoboken im US-Bundesstaat New Jersey. Hoboken liegt direkt gegenüber von Manhattan auf der anderen Seite des Hudson, verhält sich aber zu New York City wie Aschenputtel zu Schneewittchen. Sinatra war das einzige Kind sizilianischer Einwanderer und wuchs in einem traditionell italienischen Milieu auf. Italiener haben gute Stimmen und singen gern, und beides trifft auch auf Sinatra zu. Er trällerte schon im Schulchor, spielte ein bißchen Ukulele und hörte nächtelang im Radio Bing Crosby zu, der damals das war, was Sinatra später selber wurde: der König des Swing. 

Offenbar saß er ein bißchen zu lange vor dem Radio, denn wegen Faulheit und schlechten Betragens wurde er mit siebzehn von der High-School geschmissen. Danach war einer der später einflußreichsten und reichsten Musiker des 20. Jahrhunderts ein Jahr lang arbeitslos und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

1935, da war er zwanzig, überredete Sinatras Mutter – ganz die italienische Mama – ein lokales Amateur-Terzett, ihren Sohn als Sänger aufzunehmen. Drei Jahre tourten die Hoboken Four, wie die Formation sich nannte, dann mit seichten Songs durch die Kaschemmen der Provinz, bis Sinatra 1938 einen Job als Sänger-Kellner in einer Autoraststätte ergatterte, aus der einmal in der Woche ein Radioprogramm gesendet wurde.

Von da an ging alles ziemlich schnell. 1940 wurde Sinatra Sänger der Tommy Dorsey Band, damals eine der populärsten Swing-Bands im Land, nahm in einem Jahr vierzig Singles auf, die sich sofort in den Charts plazierten, was Sinatra ermutigte, den ausbeuterischen Dorsey nach zwei Jahren wieder zu verlassen. Sinatra war jetzt ohne feste Band, damals eine Seltenheit, aber die Karriere lief prächtig: 1945/46 sang er in 160 Radioprogrammen, nahm 36 Platten auf, stand an vielen Tagen dreimal auf der Bühne, drehte vier Filme und verdiente zu einer Zeit, da eine Familie von 200 Dollar im Monat gut leben konnte, 93.000 Dollar in der Woche. Mitte der vierziger Jahre also war er schon „ein großer Star, ein Teenager-Idol, dessen Konzerte von jugendlichen Fans gestürmt wurden“, stellt Kunz in seiner Biographie „Frank Sinatra und seine Zeit“ fest.

Inzwischen war der Sänger mit seiner ersten Liebe verheiratet, hatte drei Kinder in die Welt gesetzt und eine erfolgreiche Filmkarriere gestartet. Das Leben hätte also gar nicht schöner sein können, hätte Sinatra da nicht die Film-Diva Ava Gardner kennengelernt. Heute fast vergessen, war diese schwarzhaarige Schönheit vor Marilyn Monroe der größte Vamp der Filmgeschichte. Die Männer fielen ihr reihenweise zum Opfer. Auch Sinatra. Der verließ Knall auf Fall seine Familie und schlitterte statt ins Eheglück in die erste große Krise seines Lebens.

Paul Anka textete für Sinatra „My Way“

Seine Fans nahmen ihm übel, daß er Frau und Kinder verlassen hatte, seine Platten blieben in den Regalen liegen, weil es inzwischen Elvis Presley und den Rock ’n‘ Roll gab, und die Ehe mit der eifersüchtigen Gardner stellte sich als Desaster heraus. Die beiden stritten so viel, so laut und so öffentlich, daß Sinatra sich später fragte, ob es in seiner zweiten Ehe auch nur einen ruhigen Tag gegeben habe.

Als er nach sechs Ehejahren von Gardner wegen eines Toreros verlassen wurde, war er kein Sonnyboy mehr, sondern ein von Enttäuschungen und Wunden gezeichneter Mann. Das tat seiner Musik und seinen Filmen gut, denn er war inzwischen zu einem der besten Darsteller tragischer Filmrollen avanciert. Seine Darstellung des Soldaten Angelo Maggio in Fred Zinnemanns „Verdammt in alle Ewigkeit“, der einem Freund zu Hilfe kommt und dafür von einem sadistischen Vorgesetzten erstochen wird, ist unvergessen. Weitere Filme, die aus Sinatras insgesamt 56 Streifen herausstechen, sind der düstere Verbrecherfilm „Der Mann mit dem goldenen Arm“ und die Musical-Komödie „Die oberen Zehntausend“ (High-Society) an der Seite von Bing Crosby und Grace Kelly; zwei Filme, die Sinatras erstaunliche Bandbreite als Schauspieler beweisen. 

Während Jazz-Kenner die Sinatra-Platten aus den 1950er Jahren für seine besten halten, stammen die Titel, mit denen ihn heute jeder verbindet, aus den Jahren danach. 1965, da war er fünfzig, veröffentlichte er das autobiographische Album „September of My Years“ mit dem fantastischen Titel „It Was a Very Good Year“. Es ist sein bestes Konzept-Album: melancholisch, ruhig, weise. Im Jahr darauf nahm Sinatra einen Song auf, den er insgeheim „A Piece of Shit“ nannte, der ihm jedoch einen Grammy eintrug und den Titelsong seines erfolgreichsten Albums abgab: „Strangers in the Night“ – ursprünglich eine Instrumentalnummer des deutschen Bandleaders Bert Kämpfert. 1967 hörte der kanadische Sänger Paul Anka in Frankreich ein obskures Chanson mit dem Titel „Comme d’Habitude“, schrieb einen englischen Text dazu und bot es Sinatra an, der es dann unter einem Titel aufnahm, der Weltruhm erlangte: „My Way“. 

Inzwischen gibt es weit über einhundert Coverversionen von dem Stück, von Elvis Presley bis zur Punkband Sex Pistols bis zu Robbie Williams sowie einige deutsche Fassungen, darunter die sicher beste von Harald Juhnke. Am Rande: Seit Jahren taucht „My Way“ auch regelmäßig in den Top Ten der meistgespielten Lieder auf Beerdigungen auf.

Die sechziger Jahre waren überhaupt die Dekade Sinatras – trotz der Beatles, die ihm Angst einjagten, weil sie mehr Platten verkauften als er, deren „Yesterday“ er jedoch coverte. Er ging nun jedes Jahr auf Tournee (bis nach Japan), hatte andauernd Hits in den Charts und bildete zusammen mit unter anderem Dean Martin und Sammy Davis Jr. das sogenannte Rat Pack, eine Gruppe von Schauspielern und Entertainern, die gemeinsame Bühnenshows absolvierten. Zudem gab er im Caesars Palace in Las Vegas monatelang One-Man-Shows für Millionenhonorare. Ganz nebenbei heiratete er die damals noch unbekannte Mia Farrow, ließ sich aber nach zwei Jahren wieder von ihr scheiden und redete plötzlich immer öfter vom Abschied von der Bühne. Den feierte er im Jahr 1971 mit Getöse und vierter Gattin in spe, nur um sich zwei Jahre später mit einem neuen Album zurückzumelden.

1978 nahm Sinatra den Titelsong aus dem im Jahr zuvor gefloppten Musikfilm „New York, New York“ mit Liza Minnelli und Robert De Niro auf. Er verhalf dem Stück zum Durchbruch, es gehörte fortan zum festen Bestandteil seiner Konzertauftritte. 

Es folgten fast nochmal zwei Jahrzehnte, während derer Sinatra einer der bekanntesten Sänger und Entertainer der USA war, mit einem Bariton begabt, der, nun rauher und mitunter zittrig, aber desto authentischer vom Leben in New York und Chicago und seinen kleinen und großen Katastrophen erzählte.

Frank Sinatra starb am 14. Mai 1998 in Los Angeles an einem Herzinfarkt. Das tausendseitige FBI-Dossier, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde, enthielt weder schockierende Erkenntnisse noch Hinweise auf die immer behauptete Nähe zur Mafia.

Johannes Kunz: Frank Sinatra und seine Zeit. Langen Müller, München 2015, gebunden, 272 Seiten, zahl-reiche Abbildungen, 22 Euro