© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Darum müssen Sie „Jessica Jones“ sehen
Die Serie verbindet die Tapferkeit der Sarah Connor („Terminator“) mit dem Psycho-Terror von „Hannibal“
Elena Hickman

Geschichten von Superhelden laufen typischerweise nach dem immer gleichen Prinzip ab: Ein mehr oder weniger normaler Kerl bekommt plötzlich Superkräfte und beginnt daraufhin die Welt zu retten. So eine Geschichte ist „Jessica Jones“ nicht! „Jessica Jones“ ist die zweite Netflix-Serie (nach „Daredevil“) von insgesamt vier geplanten, die auf einem Comic-Heft aus dem amerikanischen Marvel-Verlag basiert. Sie ähnelt dabei mehr einem Psychothriller mit dunklem Humor als einer Superheldenserie. 

Krysten Ritter („Breaking Bad“) spielt die Privatdetektivin Jessica Jones, die ihr Geld damit verdient, andere Menschen beim Fremdgehen zu fotografieren und währenddessen große Mengen Whiskey aus Thermoskannen trinkt. Damit paßt sie zwar nicht so richtig in das männlich überfüllte und familienfreundliche Marvel-Universum, ist aber eine längst fällige Ergänzung – nachdem es selbst „Black Widow“ nicht auf die Leinwand geschafft hat. 

Jones lebt in einem heruntergekommenen Apartment in Hell’s Kitchen (New York), trägt jeden Tag die gleichen Kleider. Dankenswerterweise hat Regisseurin Melissa Rosenberg Jones nicht in ein hautenges Kostüm mit High Heels gesteckt. Sie tritt ihrem Umfeld mit einer „Ist mir alles egal“ – Haltung entgegen. Ihre Superkräfte verheimlicht sie zwar nicht, setzt sie aber recht sparsam ein – sie sind tatsächlich auch nicht übermäßig beeindruckend: Jones ist stark und kann fliegen („Es ist mehr ein Springen ... und dann Fallen“). Wie sie zu ihren Kräften kam, erklärt sie nur mit einem Wort: Unfall.

Superkräfte und  Gedankenkontrolle

Die Geschichte startet so richtig, als ein Ehepaar sie anheuert, ihre verschwundene Tochter Hope zu finden. Jones spürt die junge Frau auf und findet dabei heraus, daß Hope von einem Mann entführt worden war, der bereits das Leben von Jones zerstört hatte – und den Jones für tot geglaubt hatte. Der Schurke „Killgrave“  – ein Name, der die Zuschauer trotz fehlender Superhelden-Kostüme wieder daran erinnert, daß es sich immer noch um eine Comic-Verfilmung handelt – besitzt die Fähigkeit, die Gedanken von anderen Menschen zu beeinflussen. Eine unheimliche Fähigkeit, die Killgrave ausschließlich zu seiner Befriedigung und zu seinem Spaß nutzt: Von den zwei schönen Frauen, die neben ihm stehen sollen und die er auffordert „Lächelt!“, über die Cellistin, die sich ihre Finger für seine Unterhaltung wundspielen muß, bis hin zu Hope, der er befiehlt, nicht aus dem Hotelbett aufzustehen. Den Menschen unter seiner Kontrolle ist dabei bewußt, daß sie gegen ihren Willen handeln – aber sie können sich nicht wehren. 

Jones stand selbst lange Zeit unter Killgraves Kontrolle und versucht seitdem, dieses Trauma hinter sich zu lassen. Doch nachdem Killgrave Hope dazu bringt, ihre eigenen Eltern umzubringen, beginnt Jones gegen ihn anzukämpfen.

Ein so soziopathischer und schauerlicher Gegenspieler kann nur von einem hervorragenden Schauspieler verkörpert werden – und den haben die Serienmacher in David Tennant („Doctor Who“) auch gefunden. Er spielt den Mann, der nie erwachsen geworden ist und sich seine Welt formt, wie sie ihm gefällt. Tennant bietet den Zuschauern dabei kurze Momente, die fast schon Mitleid für seinen Charakter aufkommen lassen (zu seinen Eltern: „Ich mußte Menschen dazu zwingen, sich für mich zu interessieren“), nur um sie gleich darauf wieder zu zerstören („Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, schält euch gegenseitig die Haut ab“).

Gleichen gute Absichten Fehlentscheidungen aus?

Aber nicht nur Killgrave ist ein genauso unheimlicher wie auch faszinierender Charakter. Selbst die Geschichten der restlichen Nebencharaktere sind interessant, ohne dabei von der eigentlichen Handlung abzulenken. 

Die Serie wagt sich an Themen, die häufig leichtfertig umgangen oder betreten totgeschwiegen werden: Verantwortung, Einverständnis, Vergebung. Sind die Menschen, die unter Killgraves Einfluß standen, für ihre Taten verantwortlich? Können die guten Absichten Jessicas ihre schlechten Entscheidungen ausgleichen? Beispielsweise schläft sie mit Luke Cage (seine Geschichte wird in der nächsten Netflix-/Marvel-Serie erzählt), dessen Frau Jessica umgebracht hat, als sie unter Killgraves Einfluß stand.

Gleichzeitig schreckt „Jessica Jones“ auch nicht davor zurück, in die aufgeladene Diskussion um sexuelle Gewalt einzusteigen. Und sie zeigt, daß es keinen Unterschied macht, wie physisch stark eine Person ist – es gibt immer jemanden, der die Macht hat, den anderen zu verletzen.

Jessica Jones ist die sowohl düsterste, gleichzeitig aber auch komplexeste und faszinierendste Superheldin der letzten Jahre. „Ich war nie die Heldin, die du dir gewünscht hast“, sagt Jones in einer Folge verzweifelt. Aber das ist auch gut so! Denn sie ist endlich eine Heldin, mit der der Zuschauer auch etwas anfangen kann.

Netflix. Die Serie ist seit 20. November bei dem Abosender abrufbar.

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