© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Ewig rivalisierende Weltkräfte
Abendland und Morgenland und das „dritte Rom“: Zum 225. Geburtstag des Geschichtsdenkers und Orientalisten Jakob Philipp Fallmerayer
Lukas Schade

Heute nach Tiroler Berühmtheiten befragt, entfielen die meisten Antworten vielleicht auf zwei „Kraxler“, die Bergsteiger und genialen Selbstvermarkter Luis Trenker und Reinhold Messner. Aber keinesfalls auf Jakob Philipp Fallmerayer, dessen Geburtstag sich am 10. Dezember zum 225. Mal jährt. Obwohl der Gelehrte in seinen Spezialdisziplinen, als Historiker und Geschichtsdenker, Orientalist, Reiseschriftsteller und politischer Journalist, ebenfalls als Gipfelstürmer anzusehen wäre. Denn fraglos ist Fallmerayer hoch oben anzusiedeln unter den großen Geistern, die das 19. Jahrhundert auch nach dem Tod von Goethe und Hegel bevölkerten.

Allerdings war dieser Aufstieg extrem mühsam und oft vom Absturz bedroht. In die Wiege gelegt wurde dem Sohn eines Bergbauern der Zugang zu Bildung und akademischer Karriere jedenfalls nicht. 1801 mußte sein Vater den die Familie nicht mehr ernährenden Hof aufgeben und mit Frau und zehn Kindern ins nahe Brixen ziehen, wo er sich als Tagelöhner verdingte. Aber wie damals häufig bei begabten Kindern der Unterschicht, half die katholische Kirche auch dem jungen Fallmerayer, kümmerlichsten Verhältnissen zu entkommen. 

Vom Domgymnasium in Brixen, wo er eine gediegene humanistische Schulung durchlief, über das Salzburger Lyceum, das der Theologiestudent 1809, nach Ausbruch des Tiroler Aufstands, besuchte, schien daher alles auf das Priesteramt zuzulaufen. Doch eifrige Voltaire-Lektüre befeuerte Glaubenszweifel, die 1812 den Wechsel an die bayerische Universität Landshut, zu den „weltlichen“ Fächern, zur klassischen und semitischen Philologie, zu Geschichte und Philosophie motivierten. Kaum dort etabliert, eilte Fallmerayer vom Hörsaal aufs Schlachtfeld. 

Als Freiwilliger nahm er im Herbst und Winter 1813/14 am Befreiungskrieg gegen Napoleon teil. Und 1815 war der inzwischen zum Leutnant beförderte Studiosus wieder dabei, als es galt, den aus dem Exil zurückgekehrten Imperator endgültig zu schlagen. Den neuen Lebensplan, nunmehr als Berufssoldat zu dienen, gab er 1818, angeödet von der Langeweile in der Lindauer Garnison, wieder auf, um sich als Lehrer zu verdingen. Seit 1821 in fester Stellung am Landshuter Progymnasium, rückte er dort 1826 zum ersten Professor mit dem Lehrauftrag für Universalgeschichte und Philologie auf.

Was nach Beförderung aussah, war tatsächlich nur ein Trostpflaster. Denn das klerikal dominierte Staatsministerium versagte dem „Freigeist“ ein Ordinariat an der von Landshut nach München verlegten Universität, obwohl der Gymnasiallehrer seine Forscherqualitäten mit einer, freilich mit antikatholischen Spitzen gespickten „Geschichte der Kaisertums von Trapezunt“ (1826) sowie mit der „Geschichte der Halbinsel Morea im Mittelalter“ (1830/36) hinreichend unter Beweis gestellt hatte. 

These der Diskontinuität des griechischen Volkstums

Eine abermalige Schicksalsvolte bewahrte ihn indes vor dem Vertrocknen in provinzieller Schulroutine. Als Reisebegleiter eines russischen Generals brach Fallmerayer 1831 zu einem drei Jahre währenden Orient-Abenteuer auf. Von Ägypten über Palästina, Syrien und Konstantinopel gelangte er Ende 1833 endlich auf den Peleponnes (Morea), um an Ort und Stelle Material für seine heftig umstrittene These zu sammeln, der zufolge das Volk der griechischen Antike durch zwei Einwanderungswellen barbarischer Slawenstämme „vertilgt“ worden sei und nicht „ein Tropfen ungemischten Hellenenblutes in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlands fließet“.

Diese These von der Diskontinuität griechischen Volkstums versetzte den Historiker mitten hinein in den außenpolitischen Tagesstreit um Griechenland, das zwar 1830 das osmanische Joch abgeschüttelt hatte, aber unter einem Wittelsbacher Regenten, politisch instabil und unfähig, eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, in eine ökonomische Dauerkrise taumelte, bis 1850 britische Kriegsschiffe vor Piräus erschienen, um per Seeblockade Schulden einzutreiben. 

Für Fallmerayer, der seine Orientkenntnisse auf zwei weiteren langen Reisen (1840–1842 und 1847/48) vertiefte, und der sie als fleißiger Kommentator des Zeitgeschehens in Leitmedien wie der Augsburger Allgemeinen Zeitung  ausmünzte, erklärte sich das Scheitern der bayerischen, von Frankreich und England unterstützten Griechenland-Politik unmittelbar aus seiner „Slawisierungstheorie“. Denn mit ihr sei erwiesen, daß die Neugriechen ethnisch, geopolitisch und religiös nicht zum lateinischen Abendland, sondern zum östlichen, von Moskau beherrschten Kulturkreis gehörten. 

Da an dieser „Naturtatsache“ nichts zu ändern sei, müsse der europäische Westen in Griechenland, diesem „verlorenen äußersten Wandelstern des sarmatischen Solarsystems“, der nur von den vergoldeten Kuppeln Kiews und Moskaus Licht und Wärme empfange, genauso wie auf dem gesamten Balkan eine „Realpolitik“ der Nichteinmischung verfolgen, die die religiöse und kulturelle Andersartigkeit der meisten Südost-Völker ebenso wie deren zwangsläufige Anlehnung an das Zarenreich akzeptiere.

Obwohl bis 1848, als er im Paulskirchenparlament saß, stetig nach links rückend, operierte der einer pessimistischen Anthropologie huldigende Liberale Fallmerayer –  insoweit mit seinem Denken in Kulturkreisen Vorläufer Oswald Spenglers – mit unerbittlichen biologischen und geographischen, die Abhängigkeit der Kultur vom Lebensraum fixierenden Determinanten einer von „ewigen rivalisierenden Weltkräften“ bestimmten Völkergeschichte. Dem daraus abgeleiteten „natürlichen“ russisch-slawischen Druck auf Europa lasse sich daher nicht auf dem stammverwandten Balkan widerstehen, sondern nur durch die Stabilisierung des siechen Osmanischen Reiches. Die Annäherung zwischen der Pforte und dem Westen würde dadurch erleichtert, daß Türken und Russen, Muslime und orthodoxe Christen, von denen überdies vierzehn Millionen quasi als fünfte Kolonne zwischen Konstantinopel und Bagdad lebten, durch unversöhnlichen „Seelenhaß“ geschieden seien. 

Islam verachtete er als kulturell minderwertig

Den Islam verachtete der den Sinn der Geschichte in der Ermöglichung geistiger und politischer Freiheit begreifende Fallmerayer – wie die meisten gelehrten Orientalisten zwischen 1750 und 1945 – als unschöpferisch, kulturell minderwertig, zivilisatorisch weit zurückgeblieben – und daher für gebildete Europäer wie für rationalistisch erzogene Christen alles andere als „bereichernd“. Darum ist in den geopolitischen Zukunftsentwürfen des Türkisch, Persisch und Arabisch parlierenden Landeskenners diese Religion eine vernachlässigbare und insoweit arg unterschätzte Größe, da sie angeblich nicht störe, wenn dem kranken Mann am Bosporus europäische Korsettstangen eingezogen werden sollen.

Das journalistische Werk dieses sprachmächtigen, „nach Belieben tobenden“ Polemikers, einer der „größten deutschen Zeitungsleute“ in einer zensurbedrohten Epoche, dessen sarkastische Texte „ein neues Zeitalter deutscher Prosa“ einleiteten (Josef Nadler), ist heute so vergessen wie seine den unaufhebbaren Gegensatz von Abendland und Morgenland konturierenden historischen Schriften. Sehr zu Unrecht. Denn angesichts des Spielplans, den das europäisch-vorderasiatische Welttheater augenblicklich aufführt, wirken Fallmerayers Analysen derart frisch, daß sie sogar das Axiom erschüttern können, Geschichte wiederholte sich nicht.