© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/15 / 11. Dezember 2015

Auf der Suche nach dem verlorenen Lied
Weihnachtsradios im Internet: Mehr als 70 Themensender, aber traditionelle deutsche Weisen sind rar
Heiko Urbanzyk

Das Phänomen der Internetradios bringt für den Hörer viele Annehmlichkeiten mit sich. Der Anbieter radio.de verspricht den Zugriff auf weltweit 30.000 Radiosender für jeden musikalischen und kulturellen Geschmack. Freunde der Weihnachtsmusik finden hier 28 spezialisierte Weihnachtssender aus aller Welt. Die Zeiten kratzig-rauschender Weltempfänger sind vorbei. Sei es der Sender „Chroma Christmas“ aus Athen oder „Radio Santa Claus“ aus New York, alles kommt in digitaler Klangqualität direkt auf das heimische Smartphone, die Apps der Sender sind in der Regel kostenfrei. „Lernen Sie durch radio.de/weihnachten die Weihnachtsmusik aus aller Herren Länder kennen. Tauchen Sie ein in fremde Kulturen und Traditionen“, wirbt der Anbieter. Was aber dominiert, ist englischsprachiger Einheitsbrei. Die JUNGE FREIHEIT begab sich auf die Suche nach der heimischen Kultur. Deutsche Weihnachtslieder waren schwer zu finden.

Anglo-amerikanische Popkultur allüberall

Einen weiteren Überblick über die unübersichtliche Landschaft der Weihnachtsradiosender bietet der Suchdienst phonostar.de: Mehr als 70 Internetsender bieten demnach ausschließlich Weihnachtsmusik an. Hinzu kommen über 70 weitere Sender, die neben ihrem Hauptprogramm wie Rock, Pop, Schlager oder Volksmusik zur Zeit Weihnachtslieder als Sonderprogramme führen.

In der Rangliste der beliebtesten Weihnachtsradios im Netz oben mit dabei ist der Weihnachtssender von RTL: Platz eins unter den Weihnachtssendern bei phonostar.de. Der Kanal läuft seit November vergangenen Jahres ohne Unterbrechung.

„In diesem Jahr haben wir deutsche Künstler im Programm (Mark For-

ster, Glasperlenspiel, Namika), die beispielsweise ‘Stille Nacht’ oder ‘Jingle Bells’ in einer deutschen Version singen“, wie der Musikchef Holger Lachmann der JF sagte. Als wir reinhören, erklingen Carrie Underwood mit „Hark! The Herald Angel Sing“, John Waite „All I Want for Christmas” und „Thank God It’s Christmas“ von Queen – allüberall in den Tannenspitzen hört man die Angelsachsen witzeln. Deutsche Weihnachtslieder? Die Suche geht weiter.

Wer sich zum Weihnachtssender von Antenne Bayern vorarbeitet, stolpert erst einmal über aufgezwungene Werbung für Rasierapparate. Dann erschallt es... auf englisch. Gingerbread mit „X-mas time“. Währenddessen auf RTL: Rosie Thomas mit „Snow Day“. Sodann auf Antenne Bayern: „Sleigh Ride“ von Fun. Deutsche Weihnachtslieder? Die Suche geht weiter.

FFH Weihnachtsradio aus Bad Vilbel spielt sogar ganzjährig Weihnachtslieder. Offizielles Motto: „Für alle, denen einmal im Jahr zuwenig ist!“ Es läuft Popliedgut, N-Sync mit „Merry Christmas Happy Holidays“, dazu die unvermeidlichen Wham! mit „Last Christmas“, Kelly Family und Hall & Oats. Davor und danach? Kein einziges deutsches Weihnachtslied.

„Shake Up Christmas“ oder lieber „Let It Snow“?

Ob Radio Arabella Christmas aus Wien („Mary’s Boy Child“ von Al Bano & Romina Power), Spreeradio Weihnachtsradio („The Christmas Song“ von Ella Fitzgerald), Radio Schleswig-Holstein Weihnachten (Kylie Minogue mit „Let It Snow“), das Radio Brocken Weihnachtsradio („Shake Up Christmas“ von Natasha Bedingfield) – deutsche Weihnachtslieder, echte Adventsstimmung? Ein kompletter Ausfall, absolute Fehlanzeige!

Kann das denn Zufall sein, daß an einem Sonntagnachmittag, dem zweiten Advent, und auch den Tagen davor auf den beliebtesten Sendern nur englische Weihnachtsmusik zu hören ist? Die Recherche wird langweilig.

Die Schlagerweihnacht von laut.fm aus Konstanz muß doch etwas Adventliches bringen ... I wo! Es läuft eine Schnulze „White Christmas“ – der Interpret ist so austauschbar wie jeder andere davor auch.

Aber wer sucht, der findet: Im „Tannenbaumradio“ erklingen (auch) traditionelle Advents- und Weihnachtslieder: „Macht hoch die Tür“, „Fröhliche Weihnacht überall“, „Leise rieselt der Schnee“, „Zu Bethlehem geboren“, „O du fröhliche“. Der Rundfunkkinderchor Leipzig läßt mit „Weihnachtsfreude“ heimelige Stimmung und winterweiße Landschaften vor dem inneren Auge entstehen. Und, o Wunder, sogar das deutsche Volkslied „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ erklingt in schöner Interpretation! Der Sender geht dabei stiefmütterlich vor, Jingles oder eine Moderation gibt es nicht. Aber: Die würden unter dem Tannenbaum ohnehin nur stören.

Die Internet-Weihnachtsradios bieten insgesamt belanglose Einfalt trotz der Vielfalt. Die Profilschärfung einzelner Sender beschränkt sich auf den Unterschied von „Rock Weihnachten“, „Pop Weihnachten“ und „Jazz Weihnachten“ oder „Swinging Weihnachten“. Wer deutsche Advents- und Weihnachtslieder hören will, fährt am sichersten, wenn er sie selbst singt.