Nun war es nicht gerade so, daß ich ihr den Sitzplatz wirklich mehr gönnte als mir. Und es saßen auch noch genug andere gesunde Menschen zwischen ihr und mir, ganz besonders dieser junge Mann, der sich bei der Online-Buchung nicht auf sein Glück verlassen, sondern reserviert hatte, um sie mit seinem Ticket wedelnd zum Verlassen ihres Sitzplatzes aufzufordern. Wie er da so saß, war er bald 

so jungmännlich schön wie eine perfekt frisierte Mischung aus Max Riemelt und Tim Bendzko.

Sicher, auf den Gedan-ken, daß ich ja auch saß, bin ich schnell selbst gekommen.

Neben ihm stand, schwer, unsicher, dumm und alt, diese Frau in ihrer beigen Hose und dem beigen Polyester-Feinstrick. Sie stand da und schaute mit duldendem Blick in eine nicht ersichtliche Ferne, alle Plätze waren besetzt, selbst im Gang zum nächsten Wagen saßen schon genervt Reisende. Das machte mich etwas zornig, ganz leicht nur, aber Zorn war es doch, weil die Fahrgäste um sie herum, keiner jünger als 18, keiner älter als 40, diese Frau (eine Dame war sie nicht), einfach so stehen ließen.

Sicher, auf den Gedanken, daß ich ja auch noch saß, bin ich schnell selbst gekommen, so daß der Wettstreit zwischen Bequemlichkeit und Ehre in mir ausbrach. Über-Ich gegen Es, wem soll man mehr trauen? Dieses Mal war es so, daß die Ehre gewann. Darüber recht mißmutig, stand ich auf, ging zu ihr und fragte sie, ob sie nicht meinen Platz haben wolle. Ja, sprach sie und nahm ihn ein. Schon nach wenigen Sekunden war das neue Bild selbstverständlich geworden, und so war ich dann derjenige, der stand.

Ein paar Blicke trafen mich, das Schauspiel war nicht unbemerkt geblieben, aber für meinen Geschmack war das noch zuwenig Würdigung, nicht jeder schien meine Tat bemerkt zu haben. Und es fehlten auch noch einige Spuren vom Neid jener, die vor mir saßen, sowie von der Bewunderung solcher, die hinter mir nichts unternommen hatten. Bis Fulda waren es noch 45 Minuten.