© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Merkel löst einen Freifahrtschein
Asylkrise: Mit ihrer Rede auf dem Parteitag in Karlsruhe bringt die CDU-Chefin die Delegierten hinter sich und verschafft sich etwas Zeit
Hinrich Rohbohm

Es ist ein sehr nachdenklicher Satz, den CSU-Chef Horst Seehofer auf dem CDU-Bundesparteitag in Karlsruhe den Delegierten mit auf den Weg gibt: „Wir müssen auch Seismograph der Lebenswirklichkeit sein.“ Ein Satz, für den er nur schwachen Applaus bekommt. Der aber als Mahnung für das zu verstehen ist, was sich während und nach der Rede der CDU-Vorsitzenden in der Messehalle abspielte. 

Wie beschwipst hatten sich die 1.000 Delegierten applaudierend von ihren Plätzen erhoben, zollten der Kanzlerin neun Minuten lang Beifall. Niemand blieb sitzen. Auch die zahlreichen Kritiker der vergangenen Wochen hatten sich in den Begeisterungssturm eingereiht. Schnell wurde klar: Die Rede der CDU-Chefin ist wesentlich  durchdachter und emotionaler als noch vor drei Wochen auf dem Parteitag der Schwesterpartei. Ihre Mitarbeiter in Kanzleramt und Adenauer-Haus haben ein geschickt ausgeklügeltes Manuskript gebastelt, das die durch die Zuwanderungskrise strapazierte Seele der Partei beruhigen soll. 

Einige kommen schnell wieder zur Besinnung

Merkel spricht von Konrad Adenauer und seinem berühmten Satz „Wir wählen die Freiheit“. Die CDU-Chefin sagt: „Das gilt auch heute.“ Beifall. Wer in der Union will schon Adenauer widersprechen? Nach diesem Schema geht es weiter. Sie beruft sich auf Ludwig Erhard und seinen Satz „Wohlstand für alle“. Der gelte auch heute. Helmut Kohls blühende Landschaften in den neuen Ländern. Heute seien sie Realität. Wieder Applaus. Die Kanzlerin punktet, indem sie dem Plenum die Lorbeeren anderer vorhält. 

Daß dies für sie bitter notwendig war, wird zu Beginn ihrer Rede deutlich. Da spricht sie von Klimaflüchtlingen. Die seien keine Utopie, sondern Realität. Der Applaus ist verhalten. „Die Flüchtlinge aus Ungarn reinzulassen, war ein humanitärer Imperativ“, erklärt sie kurze Zeit später. Wieder ist die Zustimmung eher zögerlich. Das ändert sich, als sie Kohl und Wolfgang Schäuble erwähnt. Der Beifallspegel schnellt schlagartig nach oben. Applaus als versteckter Protest gegen den Linkskurs der Parteichefin?

Merkel ist gewarnt, schaltet auf Attacke. Und kann die Halle für sich gewinnen. Plötzlich wirft sie den Grünen vor, Ablenkungsmanöver zu betreiben, verspricht, dem „ Terror nicht klein beizugeben und beschwört die Gemeinsamkeiten zwischen CDU und CSU. „Auch wenn es da mal so einen Parteitag gibt“, sagt sie launig und hat die Lacher auf ihrer Seite. „Langweilig war der letzte nicht“, fügt sie an und hat die Distanz zum Plenum damit endgültig durchbrochen. Lange dauert es, bis sie das erste Mal den Namen Seehofer in den Mund nimmt. Es wird still im Saal. Die Kanzlerin rudert gönnerhaft mit den Händen. Jetzt kann sie es sich erlauben. Das unausgesprochene Signal ihrer Geste: Ihr dürft ruhig klatschen, keiner wird sanktioniert. Erleichtertes Auflachen bei den Delegierten, die ihr nun demonstrativ den Rücken stärken. 

Minuten nach der Rede, kommen einige Delegierte wieder zur Besinnung. „Was haben wir da drinnen gerade eigentlich getan?“ fragt sich einer von ihnen im Foyer, sich darüber bewußt werdend, daß der Parteitag Merkels Migrationspolitik soeben einen Freifahrtschein ausgestellt hat. „Konkret haben wir nichts beschlossen“, gesteht ein weiterer Delegierter ein. Andere rechtfertigen ihre Haltung. „Was hätten wir tun sollen? Die Kanzlerin beschädigen? Sie stürzen? Was dann? Dann bekommen wir Rot-Rot-Grün, das kann auch keiner ernsthaft wollen.“ Immer deutlicher wird: Die Union sitzt in der Merkel-Falle. Angesichts mangelnder Mehrheiten und personeller Alternativen kann sie gar nicht anders, als Merkels Kurs zu akzeptieren. Genaugenommen war der Parteitag sogar schon zu Ende, bevor die Türen zur Messehalle geöffnet wurden. 

Parteitage der CDU werden traditionell sonntags entschieden, nicht am Montag. Am Sonntag tagt das Präsidium, anschließend der Bundesvorstand. Zentrales Thema: der Leitantrag zur Zuwanderungskrise. Der Widerstand der Merkel-Kritiker: schon da erbärmlich. Ohne Mut, ohne Courage. Änderungswünsche gleichen eher einem Betteln als einem Einfordern. Obergrenzen? Finden sich in dem Papier nicht. Merkel will sie nicht. Ohnehin sieht der Antrag wenig konkrete Handlungsempfehlungen vor. Es ist ein Werk, das von Zustandsbeschreibungen geprägt ist. Und zwei minimalen Zugeständnissen der Kanzlerin an die Kritiker ihrer Migrationspolitik. 

Die Anzahl der Zuwanderer soll jetzt „spürbar verringert“ werden. Geschehe das nicht, könne Deutschland auf Dauer „überfordert“ sein. Letzteres ist erneut nur eine reine Situationsanalyse, kein Auftrag an die Bundesregierung. Statt die Zuwandererströme zu „reduzieren“ sollen sie nun „verringert“ werden. Und das „spürbar“. Wieder ein relativer Begriff. Aus dem Parteideutsch übersetzt heißt das: Die Politik der offenen Türen bleibt bestehen. 

Als einziges Bundesvorstandsmitglied versagt Arnold Vaatz dem Papier seine Zustimmung. Unter den Delegierten sind es bei wenigen Enthaltungen gerade einmal zwei. Allein die CSU bleibt bei ihrer Position. Auch wenn Seehofer vor den Delegierten allerlei Süßholz raspelt und Merkel immer wieder mit Komplimenten überschüttet. Was zwar zu einer gelösten Atmosphäre unter den Delegierten beiträgt, nicht jedoch bei Merkel. Mit eisigem Blick verfolgt sie die Rede Seehofers, klatscht nur da, wo es unbedingt notwendig ist. Zum Abschied ein kurzer förmlicher Händedruck. Versöhnung sieht anders aus, auch wenn beide mantrahaft Gemeinsamkeiten beschwören.