© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Grüße aus Wien
Eine Ente?
Von wegen
Michael Link

Jedesmal, wenn ich mit der Straßenbahn am Rathaus vorbeifahre, lege ich meine Zeitung beiseite und genieße den Blick auf das imposante Gebäude im neogotischen Stil. Meist wandert dann mein Blick bis zur Turmspitze, auf welcher der ritterliche Rathausmann in unendlich geduldiger Manier über die Geschicke der Stadt und des Rathausplatzes zu wachen scheint. 

Ähnlich dem Wechsel der Jahreszeiten verwandelt sich der Platz mal zum Eislauf-, mal zum Marktplatz. Heute bietet sich der schönste Anblick des Jahres. Die hohe Weihnachtstanne, geschmückt von Tausenden Lichtern, leuchtende, märchenhafte Rundbögen als Eingang zum Christkindlmarkt, goldene Sterne und Lichter in Schneeflockenform über den rustikalen Adventsständen erfreuen für einige Augenblicke mein Auge. 

Als sich die Straßenbahntür an der Haltestelle Rathaus öffnet, steigt augenblicklich eine zart-süße Duftkomposition aus Orangen, Zimt und Punsch in meine heute ausnahmsweise nicht erkältungsverstopfte Nase. Einige fröhliche Japaner folgen den Düften. 

Habe ich nicht gestern einen Weihnachtsmann samt Rauschebart entdeckt?

„Stadiongasse, Parlament“ höre ich die Durchsage, als ich, den Rathausplatz langsam hinter mir vorbeiziehend, wieder in die Zeitung blicke. „Nikolo: Der Bart ist nicht mehr zeitgemäß“, sticht mir wie die Stoppeln eines Siebentagebartes ins Auge. Der Artikel ist offenbar keine Ente. Nach der Lektüre weniger Zeilen weiß ich, daß Pädagogen vor dem Besuch in Wiens Kindergärten eine Totalrasur des Nikolaus fordern, im Zweifel sogar eine Verbannung. Der Bart könne Kinder ängstigen. Dabei sei heute Vollbart „in“, hörte ich dieses Jahr immer wieder.

Immer mehr Stadtpolitiker schließen sich dieser pädagogischen Forderung an. Schön, wenn sich Wien so um seine Kinder sorgt. Da fällt mir ein: Habe ich da nicht gestern einen Weihnachtsmann samt Rauschebart auf dem Rathausplatz entdeckt? Das nenne ich eine halbherzige Diskriminierung von Bartträgern. Hier wäre Solidarität vonnöten: Conchita Wurst sollte ihre prominente Stellung nutzen und eine Petition für den Heiligen Nikolaus und sämtliche Doubles starten.

Ich denke an Halloween vor wenigen Wochen zurück. Eine Warnung vor einer Ängstigung kleiner Kinder ist mir nicht in Erinnerung. Aber Monster tragen (meist) keinen Bart. Und der Rathausmann verzieht auch beim Disput um den Bart des Nikolauses keine Miene, blickt stumm und geduldig in der ganzen Stadt herum.