© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Gefangen in der Logik des kleineren Übels
Linksdrift: Politik und Presse verweigern sich der Erkenntnis des staatlichen Strukturdefekts
Thorsten Hinz

Volker Zastrows Artikel „Die neue völkische Bewegung“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29. November war so maßlos in seiner Absurdität (JF 50/15), daß man eben daran die Hoffnung knüpfte, dem Autor sei eine Groteske aus dem Ruder gelaufen, mit der er ursprünglich das genaue Gegenteil mitteilen wollte. Inzwischen jedoch haben die FAS und Volker Zastrow (in einem Interview mit der Zeit vorige Woche) nachgelegt und die Absurdität weiter fortgesponnen.

Der Ausgangstext basiert auf dem Prinzip der Inversion, der Umkehrung: „Wut, Haß und ein nicht mehr zu übersehender Hunger nach Gewalt“, die er AfD und Pegida vorhält, gehen bekanntlich von Gegendemonstranten und den Verwüstern der AfD-Parteibüros aus. Die AfD sei der „Nukleus einer Bürgerkriegspartei“, heißt es weiter, wo der Bürgerkrieg doch von oben, mit der Flutung des Landes, in Gang gesetzt wird.

Wie nun bekannt wird, müssen die Einheimischen ihn mit bis zu 55 Milliarden Euro jährlich kontributieren. Der Bannstrahl trifft die harschen Kritiker der „demokratischen Politiker“, doch die haben sich selbst als solche aus dem Spiel genommen und spätestens mit der Euro-Rettung Demokratie, Recht und Gesetz suspendiert. Und konnte der Satz, die Integration Hunderttausender Moslems sei „eine historische Herausforderung, die nur unter Aufbietung aller konstruktiven Kräfte und natürlich nicht ohne Kontroversen gemeistert werden kann“, ironiefrei gemeint sein? Er atmet schönstes SED-Parteitagsdeutsch mit der einzigen Einschränkung, daß damals von „nichtantagonistischen Widersprüchen“ statt von „Kontroversen“ die Rede war. Im übrigen hat auch „die Partei“ nie danach gefragt, ob die Menschen die „historischen Herausforderungen“, die sie ihnen auferlegte, überhaupt haben und „meistern“ wollten.

Staatsversagen als genetischer Defekt

Den Zweiflern hat Zastrow nun eine Lesehilfe an die Hand gegeben, die alle Unklarheiten beseitigt. Seine Inversion ist kein Stilmittel, sondern eine Zwangshandlung. Ausgerechnet der Zeit, wo die frisch-fromm-fröhliche Marschmusik zum Großen Umbau am lautesten intoniert wird – in der aktuellen Ausgabe schmettert es „Wir schaffen das, immer noch!“ –, hat er mitgeteilt, daß er sich beim Abfassen des Artikels um „Vorsicht und Zurückhaltung“ bemüht und manches herausgestrichen habe, um sich nicht „dem Vorwurf übertriebener Härte auszusetzen“. Sein Umkehrungsprinzip steigert sich hier zum Tourette-Syndrom: Während die Sicherheitsbehörden fieberhaft an der Verhinderung islamistischer Anschläge arbeiten, ortet er „im Kern der Bewegung“– also bei AfD und Pegida – ein „terroristisches Potential“.

Er reiht sich ein in die mediale Einheitsfront, was ein gewisses Interesse verdient, weil er zu den seltenen unter den etablierten Journalisten zählt, die in der Lage sind, aus ihrer systemimmanenten Rolle herauszutreten und die Mechanismen, Tabus, Beschränkungen und die Semantik des politisch-medialen Betriebs zu reflektieren. Zuletzt war das im Oktober 2014 der Fall, als er unter der Überschrift „Schande“ einen längeren Artikel über die Linksdrift des politischen Spektrums und die vereinten Anstrengungen von Politik und Medien veröffentlichte, die AfD nach rechtsaußen, in die „Todeszone der deutschen Politik“ abzuschieben.

Zastrow schrieb: „Heute liegt die Union als letzte Volkspartei auf dem Festland des demokratischen Konsenses wie ein gewaltiger Gletscher. An seinem rechten Rand ragt er ins Eismeer der Irrelevanz. Dort stürzt er seinen Bruch hinab, manchmal mit kräftigem Getöse. In jener Gegend lebt es sich gefährlich.“ Das sei schädlich für das Land, „(weil) sich das Eismeer ausdehnt. Weil dann immer mehr Standpunkte, die viele Leute teilen, immer mehr Ansichten, die viele als ganz normal empfinden, weil Kritik, die ausgesprochen, angehört und beachtet werden muß, Sorgen, die empfunden werden und allein dadurch schon begründet sind – weil all das ausgegrenzt, weil alldem mit der Ignoranz der Macht begegnet wird. Die Parlamente sollen das Volk repräsentieren, also das demokratische Spektrum ausfüllen, nicht einschränken.“

Solche Sätze haben Zastrow gelegentlich in den Ruf eines „Rechten“ oder „Konservativen“ gebracht, was er nicht ist und nie behauptet hat zu sein. Er ist ein Sturkopf, der sich nicht gern Vorschriften machen läßt, was mit seiner friesischen Herkunft zusammenhängen mag. Den Friesen eignet, wie Hannah Arendt in der Frankfurter Friedenspreis-Laudatio auf Karl Jaspers sagte, „ein in Deutschland ganz ungewohnter Sinn für Unabhängigkeit“. Zastrows Unabhängigkeit hat allerdings schon 2014 nicht mehr ausgereicht, um der Lagebeschreibung eine Analyse folgen zu lassen. Schiebt man das Pappmaché seines arktischen Metapherngebirges beiseite, dann fällt der Blick auf eine begriffliche Leere. Zastrow ist vor der politisch-historischen Dimension der Linksdrift zurückgeschreckt und hat keinerlei Begründung für die festgestellte Dynamik gegeben.

Das hat leicht bestimmbare Gründe, die auch seine aktuellen Attacken auf Pegida und die AfD erklären. In der Asylkrise, die beiden Organisationen Zulauf beschert, eskaliert ein jahrzehntelanges Staatsversagen, das der Bundesrepublik als genetischer Defekt mitgegeben ist. Es besteht darin, daß die massenhaften, verständlichen Einwanderungsbegehren „auf kein nationales und staatliches Hindernis“ seitens der Bundesrepublik stoßen. Vor Jahrzehnten bereits formulierte Günter Maschke: „Die BRD kann die Ausländerfrage nicht lösen – wegen Hitler! Sie kann die Frage der inneren Sicherheit nicht lösen – wegen Hitler! Sie kann ihre Armee nicht zu einer kriegsfähigen Truppe formen – wegen Hitler! Sie fürchtet den Vorwurf des Antiamerikanismus – wegen Hitler! Und den des Antikommunismus – wegen Hitler! Sie kann die Kriminalität nicht eindämmen – wegen Hitler! Sie versagt sich die Rechte, die jeder Nation zustehen – wegen Hitler! Wie lange noch die Regierung Hitler?“

Versuch eines politischen Vernichtungsschlags

Die Aufzählung versammelt einige der Positionen, auf deren Diskurs-Ausschluß Zastrow sich 2014 bezog. Zu den Gründen der Eliminierung schrieb Maschke: „Kein Erlöschen des sozialen Ethos ohne Diffamierung und Demontage des Staates, der letztlich nur funktionieren kann in einer Nation, die sich selber will.“ Stattdessen habe die Bundesrepublik ein „System komfortabler und beinahe wollüstiger Schwäche“ organisiert. „Zu halten, zu verteidigen, zu bewahren, gibt es hier nichts mehr.“ 

Bei abnehmendem Komfort wird die Empfindung auch von den Pegida-Demonstranten transportiert, wenn sie, wie Zastrow mit empörtem Unterton feststellt, „die Deutschlandfahne (...) gegen die real existierende Bundesrepublik“ nutzen. Die Empörung ist symptomatisch: Eine Politik und Presse, die sich der Erkenntnis des Strukturdefekts verweigert, bleibt gefangen in einer Logik des kleineren Übels, das kontinuierlich einem größeren Platz macht. Auch Zastrow hat nur ein Jahr gebraucht, um sich von der halben Wahrheit zur vollen Demagogie vorzuarbeiten und „auf Antifa-Kurs einzuschwenken“, wie Karlheinz Weißmann hier vor zwei Wochen schrieb. Weil er die genuine Beschädigung nicht benennen will oder kann, muß er zu ihrer und der Rechtfertigung ihrer Folgen den Protestierern moralische und faschistoide Defekte unterstellen. Er beteiligt sich damit an der Abbruchunternehmung, die er vor einem Jahr noch angeprangert hatte. 

Seine haltlosen NS-Verknüpfungen zeugen vom Versuch eines politischen Vernichtungsschlags. Die Perfidie erklärt sich vielleicht daraus, daß Zastrow es besser weiß und die energetische Aggressivität benötigt, um sich über die Schwelle der Scham und Selbstverleugnung zu heben. Im günstigsten Fall kann man vermuten, daß er die Vorgänge als eine Naturgewalt wahrnimmt, der sich entgegenzustellen nur sinnlose Opfer fordert, vor denen er die Opponenten auf brachiale Weise bewahren will. Oder er möchte in Erkenntnis der Kräfteverhältnisse rechtzeitig auf der Seite der Sieger stehen. 

Von der Kunst der Andeutung, der ironischen Anspielung, der absichtsvollen Mehrdeutigkeit als Denkaufgabe für den Leser, die Zastrow einst beherrschte, ist nichts mehr übrig. Wo das ambivalente Denken zur Gefahr wird und wegfällt, sind sprachliche Feinheiten überflüssig. „Wer mit dem Meißel schreibt, hat keine Handschrift“, heißt es bei Heiner Müller. Mag er sich in der Wärme der Herde suhlen. Als ernstzunehmender politischer Autor hat Zastrow sich demontiert.