© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Die Verkäuferin der Ladenkette Buchbox am Helmholtzplatz entgegnet auf meine Nachfrage stolz, keine Buchtitel von Akif Pirinçci mehr zu verkaufen. Ihre Begründung: „Wir haben uns gemeinsam dazu entschieden – weil wir weltoffen sind.“ Denke in dem Augenblick, die Betreiber dieser Kiezbuchhandlung haben in Wirklichkeit etwas ganz anderes offen.

Tage später, im Zug zurück nach Berlin, lese ich in der Bild, der Bezirksbürgermeister von Mitte, Christian Hanke (SPD), wolle bis zu 1.000 Flüchtlinge im leerstehenden „Haus der Statistik“ am Alexanderplatz unterbringen. Das allein hat – mit Blick auf die unklare Frage der Flüchtlingszahl – schon eine unfreiwillig ironische Note. Hanke, heißt es, unterstütze den Plan mehrerer Initiativen, dort eine Art Flüchtlings-Künstler-Haus zu schaffen. Die hierfür veranschlagten Kosten betragen fünfzig Millionen Euro. Also wenn das nichts ist, immer raus damit! Diese Investition in Humankapital zahlt sich bestimmt noch aus ...

Als ich Stunden danach am Alexanderplatz aussteige, lungern in der Halle zahllose Migranten herum, zwei Sicherheitsleute von der Bahn stehen machtlos herum – Statisten eines Spiels, auf das sie gar keinen Einfluß mehr haben. Wer durch die Türen der Bahnhofshalle nach draußen geht, muß durch ein Spalier der Migranten, die sich links und rechts der Ausgänge aufgestellt haben und bislang nur beobachten. Demnächst, so mein Gedanke, wird dieser Weg für den autochthonen Reisenden wohl zum Spießrutenlauf.

Die obdachlosen Bettler und Straßenzeitungsverkäufer in der S-Bahn haben indes einfach den falschen Paß. Allerdings fehlt auch mir jedesmal der Mut, den ebenso unglücklichen wie enervierenden Figuren den Laufpaß zu geben und ihnen zu entgegnen, sie sollten es mal als Flüchtlinge versuchen. Natürlich wäre dieser Satz zynisch, aber wäre er nicht auch ein Beitrag zur Wahrhaftigkeit eines offenen Diskurses? Denke unwillkürlich an die S-Bahnfahrten als Kind und Jugendlicher in Ost-Berlin, wenn der Fahrtabschnitt direkt an der Mauer verlief und ich sehnsüchtig die Häuserfassaden des so nahen und doch unerreichbaren Westens zu erspähen suchte – in nur wenigen hundert Metern Entfernung, und doch am Ende der Welt. Alle Berliner im Waggon schwiegen oder sprachen über irgend etwas anderes und schauten ostentativ woanders hin, etwa in die realsozialistische Lügenpresse der Jungen Welt oder der Berliner Zeitung, als gäbe es den Westen gar nicht. Und heute? Geschichte als Farce, oder: im Westen nichts Neues.