© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Montage zwischen Fiktion und historischer Wirklichkeit
Erster Weltkrieg am Hindukusch: Steffen Kopetzky macht aus der gescheiterten Afghanistan-Expedition deutscher Offiziere ein belletristisches Happy-End
Felix Dirsch

Vor hundert Jahren fand eine der abenteuerlichsten Unternehmungen des letzten Zentenniums mit dem Einzug in Kabul ihr vorläufiges Ende. Die Niedermayer-Hentig-Expedition bestand aus mehreren Gruppen, zumeist Militärs, die sich auf dem langen Weg in den Orient vereinigten. Ihr Ziel war es, im britischen Hinterland Unruhen zu entfachen, um die dominante Kolonialmacht strategisch ins Hintertreffen geraten zu lassen. Dieses Ansinnen war keineswegs so unrealistisch, wie es im nachhinein erscheinen mag, hatte doch der türkische Sultan gegen die Alliierten den Heiligen Krieg ausgerufen.

Freilich erreichten die Emissäre der Mittelmächte ihr Ziel nicht. Der Emir von Afghanistan, Habibullah, behielt seinen Kurs der Neutralität bei, obwohl er im Laufe der Zeit wenigstens Verhandlungen zuließ. Grund für die zögerliche Einstellung dürfte wohl gewesen sein, daß sich die Niederlage der Mittelmächte früh abzeichnete.

Einige der Teilnehmer darf man als höchst verwegen bezeichnen. Der aus Regensburg stammende Leutnant Oskar Niedermayer (1885–1948 )fungierte als Anführer der heterogenen Einheit. Er wurde für dieses Unterfangen ausgezeichnet und konnte später als Gelehrter reüssieren. Im Zweiten Weltkrieg wieder als höherer Offizier aktiv, wurde er von den Russen verschleppt und starb in der Sowjetunion. Nicht minder spannend ist der Lebenslauf des Orientexperten, Archäologen und Diplomaten Max von Oppenheim (1860–1946), von dem die Pläne stammten. Weiter spielte der mährische Geistliche Alois Musil eine Rolle, der zeitgleich mit den anderen Abenteurern nach Damaskus aufbrach. Über etlichen der Porträtierten liegt ein Hauch des legendenumwobenen Lawrence von Arabien.

Angesichts eines solchen hollywood-reifen Stoffes verwundert es nicht, daß sich ein bekannter Romanautor dieser wahren Begebenheiten annahm und sie belletristisch verarbeitete. Steffen Kopetzky, früherer künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn und Verfasser etlicher preisgekrönter literarischer Werke, präsentiert einen bewundernswerten Mix aus historischen Tatsachen und fiktionalen Elementen. Der Text hat es wahrlich in sich. Doch auch „Risiko“ kommt nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen aus. Bei über siebenhundert Seiten ist Durchhaltevermögen gefragt.

Der Tod des Emirs steht für den Erfolg der Operation

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Münchner Marinemaat Sebastian Stichnote, der der Phantasie Kopetzkys entsprungen ist. Der Funk ermöglicht dem gelernten Gerber, die Enge der bayerischen Landeshauptstadt zu verlassen und die Luft der großen weiten Welt zu schnuppern. Beim Ausbruch der Kampfhandlungen erweist sich die britische Flotte als überlegen. Stichnote flieht auf einem Schiff nach Konstantinopel. Er schließt sich der Expedition nach Kabul an, die über Syrien, Bagdad, Tehe-ran und andere Städte sowie unwirtliche Gegenden führt. Rund 60 Mann sind mit Kamelen und zu Pferd unterwegs. Sie durchqueren Wüsten und Gebirge. Am Ende ist ihre Mission – anders als in Wirklichkeit – erfolgreich. Die Vielzahl von Erlebnissen zieht den Rezipienten in ihren Bann.

Bereits der Prolog führt die Hauptfigur Sebastian Stichnote ein und macht neugierig: „Manchmal, in den sternfunkelnden Nächten des zu einer Geisterstadt erstarrten Kabuls war es ihm, als könnte er mit sich selbst sprechen, mit dem anderen, der er geworden war, ein Verräter und – vielleicht bald – ein Mörder. Nichts anderes beherrschte seine Tage, dennoch gab es da immer noch die Frage in ihm, ob er es wirklich fertigbrächte – ob er Emir Habibullah Khan, das Staatsoberhaupt Afghanistans, würde töten können.“

Doch leider geht es danach zunächst ein wenig behäbig weiter. Am Anfang liegt der Kreuter „SMS Breslau“ vor der albanischen Küste. Die Dialoge, etwa zwischen Stichnote und dem Kaiserlichen Leutnant Karl Dönitz, mit dem er sich anfreundet, sind keineswegs berauschend. Erst nach über dreihundert Seiten beginnt der große Aufbruch. Zur Auflockerung dient die Liebesgeschichte zwischen Stichnote und der Albanerin Arjona. Am Ende steht der Tod Habibullahs, von Stichnotes Händen herbeigeführt, als Zeichen für den Erfolg der Operation. Mit dieser Tat ist der Weg frei für den Aufstand, den der Neffe des Emirs befiehlt. Stichnote reitet nach Osten fort.

Es läßt sich in ein solches Werk sehr wohl hineinspringen, wie ein prominenter Rezensent dem Publikum empfohlen hat. Freilich droht man schnell in der Vielfalt an Schilderungen über Personen und Ereignisse zu versinken und muß häufiger zurückblättern, um den Faden wiederzufinden. Namen, Orte und Handlungen sind oft sehr verschlungen, das Erzählgewebe dicht. Manche Erzählstränge brechen einfach ab. Der Leser fragt sich dann, wie es weitergeht. 

Zweifellos ist es der Text eines sehr gebildeten Autors. Der Leser lernt viel über Kulturen und Religionen, aber auch über ein heute meist unbeachtetes Gedicht von Theodor Fontane über die immer noch fernen Regionen, selbst über die Herkunft des Mensch-ärgere-dich-Spiels. Anders als bei Karl May wird über den Islam vorurteilsfrei berichtet. Fabelhafte Dialoge hellen die Atmosphäre auf. Man betrachte lediglich die Gespräche zwischen dem Schweizer Journalisten und Kriegsreporter Adolph Zickler, der auch als Verschwörer und Waffenhändler wirkt, und einem anderen Teilnehmer der langen Reise, dem Agenten Gilbert-Khan, beides gut konturierte Persönlichkeiten. Der Vater des Schriftstellers Albert Camus spielt auf der feindlichen Seite eine Rolle, ebenso Winston Churchill als Erster Lord der englischen Admiralität oder der Orientalist und Theologe Alois Musil, auch genannt Musil von Arabien, der während des Ersten Weltkrieges zeitweilig zum Gegenspieler von T. E. Lawrence avancierte, um nur drei Beispiele für die zahlreichen Anleihen aus der Historie zu erwähnen, deren Handeln meist kunstgerecht verfremdet wird.

Das Erzählniveau des Romans ist durchweg hoch, wenngleich keineswegs brillant. Der Autor kann den Spannungsbogen halten, was angesichts des Umfangs nicht einfach ist.

Das Opus endet mit dem Epilog. Wie an anderen Stellen des Textes fühlt sich der Leser angesprochen, zwischen Fiktion und historischer Wirklichkeit zu differenzieren. Die Olympischen Spiele findet 1916 in Berlin statt. In der Realität geschieht dies bekanntlich erst zwanzig Jahre später. Plötzlich tauchen im Rahmen eines Fußballspiels gelbe Karten auf, die realiter erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg üblich werden. Der Autor versteht es virtuos, zwischen den Ebenen hin und her zu springen.

Bei so viel gekonnter Montagetechnik darf man den Verfasser zu seinem faszinierenden Werk beglückwünschen. Der vierundvierzigjährige Pfaffenhofener kann mit „Risiko“ seinen bisher größten Erfolg landen und zeigt nebenbei, daß der Historienroman auch heute keineswegs obsolet ist.

Steffen Kopetzky: Risiko. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2015, gebunden, 727 Seiten, 24,95 Euro