© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Leben im gewärmten Kulturstall
Wiedergelesen: A. Gehlens Schrift „Moral und Hypermoral“ im Lichte der Migrantenströme
Felix Dirsch

Die Phrasen sind beinahe jeden Tag in allen Leitmedien zu lesen. Breite, überparteiliche Bündnisse schreiben sich Toleranz, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und universale Humanität aufs Panier. „Bunte Vielfalt“ lautet das Motto, ergänzt durch eine „Willkommenskultur“, die alle Welt einlädt und die Mentalität reicher Onkel demonstrativ zur Schau stellt. Den positiv besetzten Worthülsen setzen die Meinungsbildner des (Medien-)Establishments üblicherweise negativ konnotierte entgegen: Rassismus, Antisemitismus, Gewalt und Ausländerfeindlichkeit.

Niemand soll ausgegrenzt werden mit Ausnahme der Spielverderber aus dem eigenen Volk. Kaum wird über eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen diskutiert, obwohl die Unterkünfte längst überfüllt sind und die Kosten immer weiter steigen. Die Folgen der Überbeanspruchung werden in den „Qualitätsmedien“ nur am Rande besprochen. Längst existiert eine ganze Asylindustrie.

Moralische Exaltiertheit, neuer Größenwahn und Entsolidarisierung unter Einheimischen gehen so Hand in Hand. Intellektuelle, die der omnipräsenten „Religion der Humanität“ etwas entgegenzusetzen haben, gibt es bis auf wenige Ausnahmen nicht. Da empfiehlt es sich, die Veröffentlichung eines Denkers aus vergangenen Tagen zur Hand zu nehmen, der heute aktueller denn je ist: der Kulturanthropologe, Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen. Seine Schrift „Moral und Hypermoral“ als „prophetisches Buch“ (Karlheinz Weißmann) wieder zu lesen, erscheint vor jüngsten Entwicklungen geboten.

„Moral und Hypermoral“ ist die wohl einflußreichste Untersuchung, die ein Konservativer in der Bundesrepublik verfaßt hat. Im Kern thematisiert Gehlen den „Humanitarismus“. Darunter versteht der Gelehrte eine Ethik, die bewährtes moralisches Verhalten in kleinen Lebenskreisen, etwa der Familie, eingeschränkt auch in größeren Verbänden (wie dem Staat), auf umfassend-anonyme Bereiche (wie die ganze Menschheit) ausdehnen will. Grenzenlose Liebe zum Menschen geht nach Gehlen auf Kosten des Staatsethos. 

Heute ist es längst der bundesrepublikanische Normalfall, wenn führende Politiker die ganze Welt mit Wohltaten beglücken wollen, für die Belange der Bedürftigen aus dem eigenen Volk aber nur Achselzucken übrig haben. Mit ihrer Entscheidung, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge aufzunehmen, treibt Angela Merkel lediglich die alten Gepflogenheiten auf die Spitze. Die Beschädigung des Rechts wie der Integrität der Grenze dürfte ihr leichtgefallen sein.

Undifferenzierte Menschheitsliebe

Das Christentum erweist sich trotz seiner primär transzendenten Ausrichtung als gewichtiger Erbe des humanitaristischen Ethos. Wenn Bischöfe oder eine Bundestagsvizepräsidentin, wie jüngst geschehen, in der linksextremistischen Antifa-Einheitsfront mitmarschieren, mag dies vornehmlich tagespolitischem Konformismus geschuldet sein. Jedoch spielen auch eigene geistesgeschichtliche Traditionen eine Rolle. Nicht von ungefähr sieht der Gehlen-Rezipient Armin Mohler im Christentum ein Reservoir für zukünftige linke Bewegungen. 

Außerhalb der (Noch-)Wohlstandsregionen sieht es jedoch anders aus. Im Gegensatz zu etlichen deutschen Würdenträgern, die dem „Menschismus“ (Peter Kuntze) uneingeschränkt huldigen, spricht der ungarische Bischof László Kiss-Rigó von einer Invasion muslimischer Flüchtlinge nach Europa. Sein Regierungschef sieht die christliche Identität des Landes gefährdet.

Die Renaissance des Humanitarismus nach 1945 läßt sich plausibel erklären. Wachsender Wohlstand bestimmt die westlichen Gesellschaften, wodurch althergebrachte Konflikte entschärft werden; aber auch die Dominanz des Pazifismus in Europa nach zwei verheerenden Kriegen läßt Auswirkungen erkennen.

Gehlens kulturkritische Studie erschien erstmals 1969. Zu diesem Zeitpunkt sind zwei grundlegende soziale Tendenzen unübersehbar: Verweichlichung infolge der starken Abwertung „männlicher“ Tugenden und aufgrund des Wandels der Arbeitswelt. Körperlich anstrengende Beschäftigung verliert zugunsten des tertiären Sektors immer mehr an Bedeutung.

Ferner ist der Beginn einer weitreichenden Feminisierung in vielen Bereichen zu vermelden. Wie Konrad Lorenz und dessen Schüler konstatiert Gehlen eine tendenzielle Verschiebung der Aggressivität (des „sogenannten Bösen“), die häufig in einer radikalisierten Moral zum Ausdruck kommt, ja nicht selten zur „Moralkeule“ (Martin Walser) mutiert. Der „gewärmte große Kulturstall, in dem die Raubtiere einander umkreisen, ethische Formeln flüsternd“ – mit dieser Metapher beschreibt Gehlen das Fortwirken der Aggressionen unter dem Deckmantel der Zivilgesellschaft, wo sie weiter ihr Unwesen treiben. Heute überrascht, wie hellsichtig Gehlen die destruktiven Folgen einer undifferenzierten Menschheitsliebe für das staatliche Institutionengefüge bereits vor über vier Jahrzehnten vorwegnimmt.

Angesichts einer ungebremsten Zuwanderung wird Gehlens Wort von der „Hochschätzung des Massenlebenswertes“, die heute Migranten bevorzugt einschließt, erneut relevant. Wer diese inklusivistischen Entwicklungen nicht mitträgt, erfährt schnell die Kehrseite der „Moralhypertrophie“: Er wird Opfer des „Aufstandes der Anständigen“ (Gerhard Schröder) und seiner Repressionen, die sich im „Kampf gegen Rechts“ konkretisieren. Wir wissen im Lichte solcher Vorkommnisse, was Gehlen andeutet, wenn er von einem permanenten „Kult des Bösen“ spricht, den humanitär verbrämte Gesinnungsmoral zelebriert.

Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Vittorio Klostermann, Frankfurt/Main 2004, kartoniert, 196 Seiten, 19,80 Euro