© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Informationen nicht nur für die dunkle Seite
Kampf um Wissen: Ein neuer Sammelband zur europäischen Geheimdienstgeschichte von 1870 bis 1940
Konrad Faber

Nach angelsächsischem Vorbild scheint sich die Geheimdienstgeschichte (Intelligence History) als Subdisziplin an deutschen Universitäten zu etablieren. Davon zeugt ein Sammelband, den Doktoranden nach einer Fachtagung 2013 in Rostock zusammenstellten und der soeben erschienen ist. Neben alten Hasen der deutschen akademischen Geheimdienstforschung (Wolfgang Krieger, Florian Altenhöner, Jürgen W. Schmidt) kommen hier junge Doktoranden und Habilitanden mit ihren Forschungsprojekten zu Wort. 

Als übergreifender theoretischer Ansatz wird die Etablierung der „Urahnen“ einiger heutiger Geheimdienste in der Zeit um 1900 und deren wechselhaftes Verhältnis zur Presse thematisiert. Einerseits war die Presse ein Konkurrent beim „Kampf um Wissen“, andererseits sammelte die Presse Wissen nicht zu klandestinen staatlichen Zwecken, sondern war zum Schrecken der Geheimdienste bestrebt, die erlangten Geheimnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Anschaulich beschreibt diesen Widerspruch die französische Historikerin Claire-Amandine Soulié am Beispiel der versuchten Knebelung der britischen Presse zur Zeit des Burenkriegs und der deutsche Historiker Norman Domeier anhand der ziemlich wechselhaften Handlungsspielräume von ausländischen Journalisten im Dritten Reich. 

Für Frederik Müllers hingegen stellt sich das Genre des deutschen Spionageromans in der Zwischenkriegszeit ganz eindeutig als „Fortsetzung des Kriegs mit literarischen Mitteln“ dar. Auf die mitunter seltsamen Ursprünge von Geheimdiensten im 19. Jahrhundert gehen zwei Deutschland und Japan gewidmete Aufsätze von Jürgen W. Schmidt und Frank Jacob ein. In Ermangelung eines eigenen außenpolitischen Nachrichtendienstes betätigten sich demnach deutsche Diplomaten in China als Quasi-Geheimdienstler, indem sie bestechlichen chinesischen Beamten jahrzehntelang geheime Regierungsdokumente abkauften. 

Der japanische militärische Geheimdienst hingegen wurzelt ursächlich in den militärischen Aktivitäten geheimer Gesellschaften der Meiji-Epoche 1868–1912. Daß der neuerdings so häufig in den deutschen Medien erwähnte Diplomat Max von Oppenheim in seinen nachrichtendienstlichen Bemühungen gegen England während des Ersten Weltkriegs ebensosehr überschätzt wurde wie in seinen einschlägigen Aktivitäten zur Entfachung des „Dschihad“, legt Salvador Oberhaus in seiner Studie dar. 

Aus dem Beitrag von Mitherausgeberin Lisa Medrow zum holländischen Islamwissenschaftler und Kolonialbeamten Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936) wird ganz nebenbei klar, daß Islamkenner schon damals das dem Islam innewohnende Gefahrenpotential klar erkannten und deswegen die Entwicklung aggressiver Strömungen im Islam voller Sorge betrachteten. 

Florian Altenhöner macht in seinem Beitrag „Augen und Ohren der Reichswehr: der Geheime Meldedienst der Abwehr 1919–1933“ nüchtern auf den Umstand aufmerksam, daß bislang die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Abwehr unter dem alles überschattenden Thema „Wilhelm Canaris“ stand. Indessen war die Abwehr zu Zeiten der Weimarer Republik und im Dritten Reich zuvörderst ein Spionageabwehrdienst, aber ebenso ein militärischer Nachrichtendienst. Hier stand nicht etwa die Informationssammlung über Großmächte wie England, die Sowjetunion und die USA im Mittelpunkt, sondern aus rein praktischen Gründen die Beobachtung von Nachbarstaaten. Hierzu zählte, neben Frankreich, vor allem das zu Zeiten der Weimarer Republik immer wieder bedrohlich agierende und zugleich dem auf eine 100.000-Mann-Armee begrenzte Deutsche Reich militärisch überlegene Polen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung jener Zeitperiode deutscher Geheimdienstgeschichte steht gemäß Altenhöner deshalb erst in ihren Anfängen. 

In einem Parforceritt zum Thema „Geheimdienstgeschichte als Wissensgeschichte“ stellt Wolfgang Krieger fest, daß alles geheimdienstlich gesammelte Wissen zwar „dunkle Seiten“ haben kann. Indessen, schon aus Gründen „ökonomischer Rationalität“, verfügt Geheimdienstwissen über die Eigenschaft, Konflikte zu vermeiden, deren Austrag recht kostspielig wäre. Ob Bundeskanzlerin Merkel vor der Flutung von Deutschland mit islamischen „Flüchtlingen“ die Kompetenz der diesbezüglich gut informierten deutschen Nachrichtendienste nutzte, wäre eine interessante Probe bezüglich der realen Nutzung von geheimdienstlichem Wissen. Allerdings wird dieses aktuelle Problem von Wolfgang Krieger nicht berührt.

Lisa Medrow, Daniel Münzner, Robert Radu (Hrsg): Kampf um Wissen. Spionage, Geheimhaltung und Öffentlichkeit 1870–1940. Schöningh Verlag, Paderborn 2015, gebunden, 243 Seiten 26,90 Euro