© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/15 / 18. Dezember 2015

Eine Folge der Westintegration
Vor 60 Jahren: Deutschland und Italien unterzeichnen das erste Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte
Michael Paulwitz

Das erste Abkommen über die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, das der deutsche Bundesarbeitsminister Anton Storch, der deutsche Botschafter Clemens von Brentano – ein Bruder des Außenministers Heinrich von Brentano – und der italienische Außenminister Gaetano Martino am 20. Dezember 1955 in Rom unterzeichneten, war für die junge Bundesrepublik Deutschland eine Zäsur. Keiner der Beteiligten ahnte oder hatte gar die Absicht, daß mit der vor 60 Jahren getroffenen Vereinbarung in der Rückschau der Startschuß zur größten Einwanderungsbewegung in der neueren deutschen Geschichte gesetzt worden war. Das einzige mit einem Gründungsmitglied der EWG geschlossene Anwerbeabkommen wurde ab 1960 zur Blaupause für weitere Vereinbarungen mit Spanien, Griechenland, Portugal, Jugoslawien, der Türkei, Marokko und Tunesien, mit denen die Bundesrepublik den Forderungen der jeweiligen Regierungen nachgab.

Entgegen der verbreiteten Lesart spielte ein Bedarf der deutschen Wirtschaft nach zusätzlichen Arbeitskräften für das beginnende Wirtschaftswunder beim Zustandekommen des Abkommens nur eine untergeordnete Rolle. Ausschlaggebend war vielmehr das Drängen der italienischen Regierung auf eine Verbesserung seiner in gefährliche Schieflage geratenen Handelsbilanz gegenüber der Bundesrepublik durch die Rücküberweisungen von Lohnersparnissen der Gastarbeiter in die Heimat, das von Bundeskanzler Konrad Adenauer, bis Juni 1955 in Personalunion zugleich Außenminister, und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard aus diplomatischen und außenpolitischen Erwägungen unterstützt und schließlich gegen den Widerstand von Bundesarbeitsministerium und Gewerkschaften durchgesetzt worden war.  

Für Italien war das dringend ersehnte Abkommen in zweifacher Hinsicht keine Premiere. Bis 1951 hatte die Republik bereits mit sechs europäischen Staaten, darunter der Schweiz, Großbritannien, Schweden und zuletzt Frankreich, entsprechende Vereinbarungen über die Beschäftigung italienischer Arbeiter getroffen. Zudem verwies die italienische Seite auf die positiven Erfahrungen mit der deutsch-italienischen Anwerbever-einbarung von 1937, die in den Jahren unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs die italienische Leistungsbilanz stabilisiert hatte. Auch bei vielen italienischen Arbeitern war das „gute Geld“, das seinerzeit zu verdienen war, in angenehmer Erinnerung und verstärkte den Druck aus der Bevölkerung nach einer Neuauflage.

Italien hatte zwar in den Nachkriegsjahren ebenfalls ein kleines „Wirtschaftswunder“ erlebt, das indes auf den industrialisierten Norden beschränkt blieb. Im agrarischen Süden herrschte dagegen hohe Arbeitslosigkeit und soziale Depression. Durch die wachsende Exportstärke der jungen Bundesrepublik, deren Handelsbilanz schon 1951 wieder ausgeglichen war und seither steigende Überschüsse erwirtschaftete, wuchs das Defizit Italiens im System der Europäischen Zahlungsunion (EZU) und setzte das Land unter scharfen Anpassungsdruck.

Gewerkschaften lehnten Gastarbeiteranwerbung ab

Mit den von Deutschland angebotenen Maßnahmen zur Steigerung des Fremdenverkehrs und des Imports von Obst, Gemüse und Wein aus Italien sei das Defizit angesichts der dramatisch hohen Arbeitslosigkeit im Süden aus eigener Kraft nicht auszugleichen, untermauerte Italien in den 1953 aufgenommenen bilateralen Handelsgesprächen sein Drängen auf ein Anwerbeabkommen. Bundeswirtschaftsminister Erhard, der bereits 1954 im Alleingang die Hereinnahme von 200.000 italienischen Landarbeitern angeboten hatte, machte sich diese Position zu eigen und hatte damit auch Bundeskanzler Adenauer hinter sich, der im Interesse des weiteren Ausbaus der europäischen Einigung dem EWG-Partner Italien entgegenkommen wollte. Die deutsch-italienische Vereinbarung ist damit auch eine „unmittelbare (...) Folge der wirtschaftlichen Westintegration“, wie Heike Knortz in ihrem Standardwerk „Diplomatische Tauschgeschäfte“ (Köln 2008) hervorhebt.

Gegen den von Knortz betonten Primat der Außenpolitik in der Gastarbeiterfrage und seine Mechanismen blieb dem fachlich eigentlich zuständigen Arbeitsministerium, das auf eine vorrangig „innerdeutsche Lösung der Arbeitsmarktfragen“ drang, nur hinhaltender Widerstand. Entschiedener Gegner einer Anwerbung von Italienern waren die Gewerkschaften, vor allem die Industriegewerkschaft Bergbau, die noch im Juli 1955 drohte, sich „bis zum äußersten gegen den Einsatz von Fremdarbeitern im Bergbau“ wehren zu wollen. Die Arbeitnehmervertreter fürchteten Lohndrückerei und eine schlechtere Position bei der Durchsetzung von Lohnerhöhungen und sozialen Verbesserungen, die man sich angesichts der Verknappung des Faktors Arbeit durch die sich abzeichnende Vollbeschäftigung erhoffte. Die Befürchtungen waren nicht unbegründet; Franz Josef Strauß, Bundesminister „für besondere Aufgaben“, plädierte im Oktober 1955 im Kabinett offen für den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte, um Lohnerhöhungsforderungen der Gewerkschaften besser abwehren zu können. Eine Folge des gewerkschaftlichen Widerstands war, daß im Zuge des Anwerbeabkommens deutsche und ausländische Arbeitskräfte bei Entlohnung und Sozialleistungen von Anfang an völlig gleichgestellt wurden.

Die anfänglich fixierte Obergrenze von hunderttausend italienischen Gastarbeitern wurde schon 1960 gesprengt. Die in Verona und später in Neapel eingerichteten Rekrutierungskommissionen verloren bald an Bedeutung; die zunehmende Arbeitnehmerfreizügigkeit ermöglichte den direkten Zuzug auch über den Anwerbestopp von 1973 hinaus. Insgesamt sind seit 1955 vier Millionen italienische Staatsbürger nach Deutschland zugewandert; 89 Prozent sind nach kürzerem oder längerem Aufenthalt wieder zurückgekehrt. 

Heute suchen verstärkt besser ausgebildete junge Leute den Weg nach Deutschland; in den fünfziger und sechziger Jahren kamen zwei Drittel der angeworbenen Italiener aus dem unterentwickelten Süden, in dem Clandenken und Abschottung verbreitet sind. Auch wenn die anfänglich vorhandene Ablehnung längst Respekt und Akzeptanz gewichen ist, stehen die etwa 560.000 derzeit in Deutschland lebenden Italiener auch aufgrund dieser Migrationsgeschichte bis heute – gemessen am Erfolg in Bildungssystem und Arbeitsmarkt– im Schnitt hinter anderen westeuropäischen Gastarbeitermigranten zurück.

Foto: Zwei italienische Gastarbeiter kochen Spaghetti, Wolfsburg 1962: Im Interesse des weiteren Ausbaus der europäischen Einigung