© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Paradies in der Sackgasse
Osttimor: Das christliche Land kämpft mit vielfältigen Problemen und unbequemen Nachbarn
Marc Zoellner

Aus dem Flugzeug betrachtet, gleicht die Insel Timor einem kleinen Paradies inmitten der kristallblauen See. Schroffe, von tiefgrünen Urwäldern bewachsene Felsmassive prägen das Innere des Eilands. Papageien und Warane tummeln sich hier. Und in den Flüssen findet sich eine der dichtesten Populationen der bis zu sechs Meter langen Leistenkrokodile Südostasiens. Sie gelten als vor der Jagd geschützte Heiligtümer der Timoresen. Der Legende nach ruht ihre Insel auf dem Rücken eines solchen Tieres, des „Lafaek Diak“, des „guten Krokodils“, wie ihr Totem in der vorherrschenden Landessprache, dem Tetum, bezeichnet wird.

Seit 40.000 Jahren besiedeln die Vorfahren der heutigen zwölf Hauptstämme das Eiland. Und vor fünfhundert Jahren – im August 1515 – legten portugiesische Dominikaner den Grundstein der Christianisierung dieser Völker. Über 96 Prozent der Osttimoresen bekennen sich heutzutage zum Katholizismus, was Timor-Leste, so der offizielle Name der zweitjüngsten Nation der Erde, neben den Philippinen eine kulturelle Sonderstellung im asiatisch-pazifischen Raum verleiht.

„Es braucht mehr Tapferkeit, um zu vergeben“

Doch mit dieser verband sich auch ein Generationen währendes historisches Leid: Zwar wurde dem Osten der Insel, vier Jahrhunderte lang portugiesische Kolonie, im Zuge der Nelkenrevolution die Unabhängigkeit versprochen. Schon 1975 sollte Timor-Leste als selbständiger Staat ausgerufen werden. Doch im selben Jahr besetzten die Truppen des benachbarten Indonesien unter diplomatischer Rückendeckung der USA sowie Australiens die kleinere Inselhälfte ein. 

Der folgende Guerillakrieg sowie Hungersnöte und Wassermangel kosteten fast jeden vierten der rund 800.000 Osttimoresen das Leben. Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und zwangsweise Sterilisationen gehörten ebenso zum Tagesgeschehen wie die Verfolgung und Verschleppung katholischer Priester durch indonesische Behörden.

So wie am 12. November 1991 beim berüchtigten Santa-Cruz-Massaker. Indonesische Sicherheitskräfte griffen damals mehrere tausend Gemeindemitglieder auf einem Friedhof nahe der Kirche San António de Motael mit Sturmgewehren und Bajonetten an. Über 270 osttimoresische Katholiken wurden in diesem Hinterhalt brutal ermordet, mindestens ebenso viele „verschwanden“. Seit der Unabhängigkeit der Inselnation wird der 12. November jedes Jahr als nationaler Feiertag zelebriert, an welchem an die unzähligen Toten dieses Blutbads sowie der zweieinhalb Jahrzehnte währenden Rebellion des katholischen Osttimor gegen die indonesischen Besatzer erinnert wird.

„Es braucht mehr Tapferkeit, um zu vergeben, als es braucht, um zu den Waffen zu greifen“, definierte der 1996 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Völkerrechtler und spätere timorlestische Präsident José Ramos-Horta schon frühzeitig nach der Unabhängigkeit die außenpolitische Richtlinie seines Landes. Seitdem stellt Indonesien mit einem Drittel aller Importe nicht nur den wichtigsten Handelspartner Timor-Lestes dar. Auch politisch rücken die ehemaligen Feinde eng zusammen. Nicht zuletzt zu den Unabhängigkeitsfeiern des im Vergleich winzigen Nachbarn sendet Jakarta regelmäßig Delegationen nach Dili.

Was beide Staaten eint, ist das Interesse an den Bodenschätzen der Timorsee. Die dort prospektierten Erdölvorkommen könnten sich als weitere Goldgrube für Indonesien erweisen. Für Timor-Leste hingegen sind sie existentiell. Denn anders als beim wirtschaftlich prosperierenden Pantherstaat Jakartas, arbeiten vier von fünf Osttimoresen in der Landwirtschaft. Kaffee stellt das einzige Exportgut dar. Der Handel mit der Bohne bringt der Insel jedoch gerade einmal  zwölf Millionen Euro ein. Verglichen mit den Importkosten für Maschinen, Nahrung und Textilien, die alljährlich über 300 Millionen Euro verschlingen, eine geradezu banale Summe.

Timor-Lestes Wohlstand läßt sich allein auf hoher See finden. Speziell auf dem Grund der Timorsee. Rund 250 Kilometer südlich der timoresischen Küste befinden sich dort, betrieben von einem multinationalen Joint Venture, die beiden großen Ölfelder von Kitan und Bayu-Undan. Neunzig Prozent aller Steuereinnahmen aus Produktion und Verkauf dieser Bodenschätze fließen, einem 2002 abgeschlossenen Vertrag mit Australien zufolge, direkt an Dili, das verbleibende Zehntel an Canberra.

Kitan und Bayu-Undan stellen damit die einzige Einnahmequelle der osttimoresischen Republik dar. Gewinne aus diesem Segment wurden von den wechselnden Regierungen von Beginn an in mehrere, insgesamt rund 16 Milliarden Euro schwere Aktien- und Beteiligungsgeschäfte reinvestiert, der Staatshaushalt wiederum aus den Finanzgeschäften letzterer abgewickelt. Nur deckt dieser schon lange nicht mehr die vermehrten Bedürfnisse der Timoresen.

„Seit 2012 ist ein Rückgang der Gewinne aus dem Erdölbereich“ zu verzeichnen, konstatierte das neuseeländische Außenministerium in einem Memorandum. „Für 2014 ging der Gewinn der Regierung von Timor-Leste im Erdölgeschäft sogar um 40 Prozent im Vergleich zu 2013 zurück.“ Die Staatsausgaben verringerten sich im selben Zeitraum jedoch lediglich um anderthalb Prozentpunkte. Daß die Regierung in Dili deshalb bereits ihre eigenen Reserven angreifen mußte, stieß im Land auf harsche Kritik.

Zitterpartie beim lebenswichtigen Ölgeschäft  

Zwar liegt mit dem Sunrise-Feld ein weiteres reichhaltiges Öl- und Gasreservoir in greifbarer Nähe zu Timor-Leste. Doch der Großteil seiner Fläche befindet sich nicht im bilateralen Joint Venture-Bereich, sondern im Hoheitsgebiet Australiens. Verhandlungen über die gemeinsame Ausbeutung dieser unterseeischen Felder sind jedoch stets an der Furcht Australiens gescheitert, im Zuge der Gleichbehandlung auch Indonesien beteiligen und Jakarta somit einen beachtlichen Anteil der Einnahmen abtreten zu müssen.

Jakarta weiß Dilis Armut als Faustpfand in der Beeinflussung der australischen Meinung einzusetzen. Gerade weil Osttimor im 13. Jahr seiner Unabhängigkeit in einer entwicklungsgeschichtlichen Sackgasse steckt: Denn ohne die Devisen aus Ölgeschäften kann Dili keine erweiterte Infrastruktur aufbauen, keine anderen Wirtschaftszweige sich im Land etablieren lassen. 

Noch immer rangiert Timor-Leste auf einem hinteren Rang des Welthungerindex. Fast 40 Prozent der Kinder gelten als unterernährt, nur jedes fünfte Wohnhaus besitzt einen eigenen Wasseranschluß. Ein medizinisches Versorgungsnetz ist nur rudimentär vorhanden. Das gute Krokodil scheint trotz aller Bestrebungen Timors nicht aus der Armutsfalle erwachen zu wollen.