© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Grüße aus London
Geisterhafte Existenzen
Derek Turner

Sir Giles Gilbert Scott wurde die Architektur quasi in die Wiege gelegt. Sein Großvater schuf Londoner Wahrzeichen wie das Albert Memorial und das Midland Grand Hotel am Bahnhof St. Pancras. Der Enkel führte die stolze Familientradition mit Gebäuden wie Waterloo Bridge und Battersea Power Station in London weiter. Seine weltweit wohl bekannteste Schöpfung jedoch war die K2-Telefonzelle (sowie die Nachfolgevarianten K3 und K6) im Auftrag des General Post Office, die ab 1924 weit über das Londoner Stadtbild hinaus Symbolkraft entfaltete.

Die Telefonzellen wurden von der Öffentlichkeit von Anfang an mit Begeisterung aufgenommen. Mit ihrer gußeisernen Gediegenheit, ihren kuppelförmigen Dächern, ihren Sprossenfenstern und schweren Türen in fröhlichem Knallrot vermittelten sie ein Gefühl von Komfort, Schutz und Zuverlässigkeit – erst recht nachdem die Kuppel 1926 durch eine kleine goldene Krone verschönert wurde. 

Etwa 10.000 von ihnen bleiben als rote Trutzburgen gegen den Zeitgeist erhalten.

Freilich waren sie auch sehr wartungsintensiv und ließen sich kaum gegen Vandalismus schützen: eingeschlagene Glasscheiben, aufgebrochene Münzapparate, abgerissene Hörer, und immer wieder wurden die schmucken Telefonhäuschen von angetrunkenen nächtlichen Besuchern als Toiletten zweckentfremdet. Als das britische Festnetz 1980 privatisiert wurde, betrachtete der neue Betreiber, die British Telecommunications Company, sie als Schandflecke – zumal in der Londoner Innenstadt, wo sie mit den Visitenkarten von Prostituierten tapeziert waren. 

Die neuen BT-Telefonzellen kamen häßlich-funktional daher und stießen bei den Kunden auf wenig Gegenliebe, allerdings waren ihre Tage im anbrechenden Handy-Zeitalter sowieso gezählt. Viele der traditionellen roten Telefonhäuschen haben als Gartenschuppen, Museumsstücke oder Filmrequisiten ein neues Zuhause gefunden. Etwa 10.000 bleiben als Trutzburgen gegen den Zeitgeist weiterhin in ihrer ursprünglichen Funktion erhalten: Relikte des vergangenen Jahrhunderts, die von Efeu und Flechten überwachsen eine geisterhafte Existenz führen. 

Für jene verzweifelten Seelen, die doch einmal in die Bredouille geraten, die schweren Türen aufziehen zu müssen, hat BT immerhin detaillierte Informationen zur Kreditkartenzahlung ausgehängt. Teilweise stehen sie unter Denkmalschutz und werden daher nicht so schnell aus dem Londoner Stadtbild verschwinden wie die roten Doppeldeckerbusse.