© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 53/15-01/16 vom 25. Dezember und 1. Januar 2016

Die Welt vermessen
Orientierung aus der Himmelsperspektive: Die Unesco hat 2016 zum Jahr der Kartographie ausgerufen
Robert Backhaus

Die Unesco hat das Jahr 2016 rätselhafterweise zum „International Year of Global Understanding“ erklärt. Zuständige deutsche Stellen sprechen vom „Wissenschaftsjahr der Geographie“. Genaueres Hinsehen bringt zutage, daß es eine Art „Jahr der Kartographie“ werden soll. In den diversen Landesvermessungsämtern – Kartographie ist in Deutschland offiziell Sache der Bundesländer – bereitet man sich auf eine gründliche Neuordnung und Ausweitung aller „geodätischen“ Bestände vor. Es herrscht Alarmstufe eins.

Auch der Bund ist inzwischen aktiv geworden. Das in Frankfurt am Main ansässige Bundesamt für Karthographie und Geodäsie (BKG) wurde ausdrücklich dazu verpflichtet, die Länder „zwecks Wahrnehmung übergeordneter internationaler Aufgaben“ kontinuierlich mit neuen Geodäsiedaten zu versorgen. Besonders topographische Karten und Daten im Maßstab 1:200 000 und kleiner seien den Ländern wie auch Universitäten oder privaten Verlagen, welche Atlanten oder andere kartographische Werke herausgeben, so schnell und umstandslos wie möglich zur Verfügung zu stellen.

Die ganze kartographische Aufregung hat natürlich mit den rapiden geodätischen Veränderungen zu tun, die zur Zeit als Folge der Erderwärmung in vielen Teilen der Welt stattfinden. Küstenlinien, etwa die Deltas der großen Flüsse, die ins Meer münden (Mississippi und andere) müssen beinahe jährlich von den Kartographen neu vermessen und in die Karten eingezeichnet werden. Ganze ausgedehnte Inseln, vor allem im Indischen Ozean und im Pazifik, deren Küsten allerseits nur ein, zwei Zentimeter über dem Meeresspiegel lagen, verschwinden plötzlich von der Erdoberfläche, gehen buchstäblich unter und müssen aus den Land- und Seekarten gestrichen werden.

Oder es passiert folgendes: Angesichts der akut drohenden Gefahr, daß einige ihrer nicht nur von Tieren, sondern auch von Menschen bewohnten Inseln vom steigenden Meeresspiegel verschluckt werden, setzt es die Regierung der Malediven auf einem „Weltklimagipfel“ durch, daß ein internationales Sofortprogramm zur Rettung dieser Inseln beschlossen wird, beispielsweise indem man eine, von westlichen, „reichen“ Ländern finanzierte, Mauer um sie herum aufzieht. Was tun nun die Kartographen? Lassen sie die Inseln in der nächsten Auflage ihrer Kartenwerke stehen? Oder tragen sie (da sie ja wissen, daß Weltklimagipfel-Absprachen das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen) ihr Verschwinden ein? Wie man es macht, macht man es falsch.

Trost spenden kann da eigentlich nur ein Blick auf die Geschichte des eigenen Faches, also die historische Kartographie. Sie war immer schon ein Risikogeschäft. Von Anfang an ging es in ihr nicht um Weltabbildung, sondern um Welteroberung, um Wegweisung in bisher unbegangenem Gelände, um optimales Vorankommen und Orientierungssicherheit. Deutlich markiert wurden einzig die Wege, alles andere schrumpfte zu bloßer Symbolik zusammen, zu Verkehrsschildern gewissermaßen und zur Mathematik der Zahlen. Wie weit war es von da nach dort und was mußte man unterwegs alles beachten, um schließlich gut anzukommen?

Als erster ernsthafter Versuch des Abendlands, eine brauchbare Land- und Seekarte anzufertigen, gilt bei den Historikern ein Papyrus des großen griechischen Gelehrten Anaximander aus der Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr., der von mathematischen und geodätischen (und auch astronomischen) Kürzeln nur so wimmelt und wohl nur von Gelehrten, die Anaximander einigermaßen ebenbürtig waren, entschlüsselt werden konnte. So ist es dann lange Zeit geblieben. Kartenlesen war ebenso eine Kunst wie das Kartenverfertigen; und im Grunde gilt das weitgehend sogar heute noch.

Das Genre hat sich im Lauf der Jahrhunderte immer weiter aufgefächert und wurde auch zum blühenden Geschäftszweig. Zunächst stand ihm das alte ptolemäische Weltbild („die Welt ist eine Scheibe“) im Wege, an dem speziell die Seefahrer schon früh gezweifelt hatten, doch nach der kopernikanischen Wende stand der „Vermessung der Welt“ (Daniel Kehlmann) nichts mehr im Wege, und die Kartographie profitierte davon. In ihren Werkstätten entstanden nun prächtige Globen, die man drehen konnte, und die realen Weltumseglungen, die nun folgten, lieferten immer neue, genauere Aufschlüsse über die wirkliche Gestalt der Erde und wurden sofort in die Kartographie aufgenommen. 

Schon 1507 gab Martin Waldseemüller eine sogenannte Weltkarte, den ersten „Weltatlas“ heraus sowie eine „Einführung in die Kosmographie“. Tonangebend wurden bald darauf die Schöpfungen von Gerhard Mercator (1512–1594) und dessen Söhnen sowie diejenige von Abraham Ortelius namens „Theatrum Orbis Terrarum“. Die Taten der Mercators in Duisburg und des Abraham Ortelius in Antwerpen gelten heute zu Recht als der definitive Beginn des kartographischen Zeitalters. Seit ihnen gibt es „Reiseführer“ in allen nur möglichen Preislagen, Entfernungstabellen, Stadtpläne noch für das kleinste Nest.

Der von Mercator & Co. geschaffene Stil der Abkürzungen, Symbolisierungen und sonstigen Lesehilfen hatte Bestand, und er machte Schule. Nach seinem Vorbild wurden alle übrigen Kartographierungsfelder gestaltet, die sich in der Neuzeit allmählich herausbildeten: die Sternkarten zum Beispiel, die Systeme, die die Gehirnforscher von heute zur Kartographierung der Gehirnströme und zur Zählung der Synapsenanschlüsse verwenden. Erst in allerjüngster Zeit, mit Beginn des „digitalen Zeitalters“, werden Zweifel an der Effizienz der herkömmlichen Kartographie laut, und sie werden immer lauter. Nicht zuletzt deshalb ja das „Jahr der Kartographie 2016“.

Kritisiert am kartographischen System wird von den Digitalen vor allem seine „Himmelslastigkeit“. Herkömmliche kartographische Erzeugnisse sind ja in der Regel Grundrißdarstellungen: das Gelände wird quasi „von oben“, wie aus dem Himmel, betrachtet. Daraus ergeben sich zwar relativ klar definierbare Genauigkeits- und sonstige Qualitätskriterien, aber verloren gehen angeblich alle „unmittelbar raumbezogenen“ Informationen, wie sie in den digitalen Displays statisch oder dynamisch aufscheinen und den Benutzer interaktiv kommunizieren lassen. Analoge Karten reichen demnach zur Beurteilung von Qualität nicht aus, sie quantifizieren nur. Die heute notwendige Qualität muß durch ein weiteres Informationssystem und seine Komponenten wie Datenbanken und Extraprogramme hergestellt werden. Die klassische Kartographie, heißt es heute allgemein, sei nur „bedingt lebenstauglich“.

Der Kasus, um den es hier geht, wird gern auch durch einen populären Vergleich zwischen Autokarte und elektronischem Navigationsgerät vorgeführt. Ich steige in mein Auto, kenne aber nur das Ziel, wohin ich fahren möchte, nicht den Weg dorthin und nicht die eventuellen Hindernisse und Umwege, die mich aufhalten könnten. Früher hätte ich erst einmal intensiv die Karte studieren müssen – und wäre auch dann noch nicht ausreichend belehrt gewesen. Heute jedoch schalte ich einfach das Navi an, lausche der charmanten Stimme der Ansagerin, folge ihren Anweisungen – und gelange pünktlich und ohne jede Aufregung an meinem Ziel an, hurra! So fällt die Entscheidung zwischen Karte oder Navi gewiß nicht schwer.

Was werden die Experten auf den vielen Kongressen dazu sagen, die jetzt überall auf der Welt im Rahmen des Unesco-Jahres der Kartographie stattfinden sollen? Werden sie unisono für den sofortigen Übergang von der alten, umständlichen Kartenhuberei zu den digitalen Navis stimmen und von diversen nationalen Regierungen  auch gleich riesige Milliardenbeträge fordern, damit ja auch der allerletzte Klippschüler ein solches Gerät in die Hände bekommt?

Nun, vielleicht wird es wenigstens einen geben, der zu sagen wagt: „In der guten alten Kartenwelt war es schöner.Wir studierten fleißig und mußten uns trotzdem stets auf unerwartete Ereignisse einstellen. Die Welt war vielfältiger. Und wir durften uns dabei immerhin als kecke Welteroberer und freie Individuen fühlen, die ihren eigenen Kopf haben.“