© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

„Es war der Horror“
Kriminalität: Die sexuellen Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht sorgen für Entsetzen
Henning Hoffgaard / Marcus Schmidt

Dienstag vormittag war es endlich soweit. Bundesjustizminister Heiko Maas meldete sich zu Wort. „Die abscheulichen Übergriffe auf Frauen werden wir nicht hinnehmen. Alle Täter müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden“, twitterte der SPD-Politiker unter dem Hashtag (Stichwort) #Silvester. In einer Pressemitteilung sprach der Minister zudem von einer „offenbar völlig neuen Dimension organisierter Kriminalität“ und kündigte Konsequenzen an: „Wir dürfen nicht zulassen, daß Menschen in unseren Städten blanker Gewalt schutzlos ausgeliefert sind.“

Zuvor hatte sich über Maas, der ansonsten nie um einen schnellen Tweet verlegen ist – vor allem wenn es um mutmaßliche oder tatsächliche Straftaten von Rechtsextremisten geht – in den sozialen Netzwerken viel Häme ergossen. Stellvertretend für alle anderen Politiker wurde er für sein tagelanges Schweigen an den Pranger gestellt, nachdem am Montag die Berichterstattung über die Vorfälle in der Silvesternacht langsam angelaufen war. Ausgelöst worden war das plötzliche mediale Interesse durch eine Pressekonferenz des Kölner Polizeipräsidenten Wolfgang Albers und die Ankündigung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos), eine Krisenkonferenz einzuberufen. „Wir können nicht tolerieren, daß hier ein rechtsfreier Raum entsteht“, sagte die Politikerin  dem Kölner Stadt-Anzeiger.

In der Nacht zum 1. Januar hatten 40 bis 100 von Zeugen als Nordafrikaner beschriebene Männer aus einer Menschenansammlung von bis zu 1.000 Personen heraus rund um den Hauptbahnhof Dutzende von Frauen sexuell bedrängt und bestohlen. „Die Verdächtigen versuchten durch gezieltes Anfassen der Frauen von der eigentlichen Tat abzulenken – dem Diebstahl von Wertgegenständen. Insbesondere Geldbörsen und Mobiltelefone wurden entwendet“, berichtete die Polizei. Bis Dienstag lagen 90 Strafanzeigen von betroffenen Frauen vor. Die Ausländer bildeten demnach regelrechte Gassen, durch die die Frauen laufen mußten. „Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Po, dann an meinen Brüsten, schließlich wurde ich überall begrapscht. Es war der Horror. Obwohl wir schrieen und um uns schlugen, hörten die Typen nicht auf. Ich war verzweifelt und glaube, daß ich rund 100mal auf den knapp 200 Metern angefaßt wurde“, berichtete eines der Opfer dem Kölner Express. Eine weitere Frau schilderte: „Ich habe zum Glück eine Hose und einen Mantel getragen. Einen Rock hätte man mir vermutlich vom Leib gerissen.“ Während der Übergriffe wurden die Frauen als „Schlampen“ beschimpft.

Neben Justizminister Maas äußerten sich am Dienstag auch zahlreiche andere Politiker zu den Übergriffen. Dabei warnte die Vizepräsidentin des Bundestages Claudia Roth (Grüne) davor, Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen. „Es ist doch nicht so, daß wir jetzt sagen können, das ist typisch Nordafrika, das ist typisch Flüchtling“, sagte Roth dem WDR. „Hier geht es um Männergewalt und hier geht es um den Versuch, eine Situation – Silvesternacht – auszunutzen, als wäre das ein rechtsfreier Raum.“

Die Ministerpräsidentin von Nord-rhein-Westfalen, Hannelore Kraft (SPD), äußerte im Kölner Stadt-Anzeiger die Hoffnung, daß möglichst viele Täter ermittelt und bestraft werden. „Klar ist, daß dies unabhängig von der Herkunft erfolgen muß. In den Fällen, wo die Voraussetzungen gegeben sind, müssen kriminelle Straftäter dann auch abgeschoben werden“, verdeutlichte Kraft. 

Übergriffe auch in Hamburg und Stuttgart

Welche Brisanz den Ereignissen in Köln in Berlin beigemessen wird, wurde dann am Dienstag nachmittag deutlich. Regierungssprecher Steffen Seibert unterrichtete die Öffentlichkeit von einem Telefonat, das Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Kölner Oberbürgermeisterin geführt hatte. „Die Bundeskanzlerin drückte ihre Empörung über diese widerwärtigen Übergriffe und sexuellen Attacken aus, die nach einer harten Antwort des Rechtsstaats verlangen. Es müsse alles darangesetzt werden, die Schuldigen so schnell und so vollständig wie möglich zu ermitteln und ohne Ansehen ihrer Herkunft oder ihres Hintergrundes zu bestrafen“, berichtete Seibert.

Mit Entsetzen reagierte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) auf die Übergriffe in der Silvesternacht . Es handele sich um „eine völlig neue Dimension der Gewalt“, sagte GdP-Landeschef Arnold Plickert. „Die massiven Übergriffe“ seien „unerträglich“. Aus diesem Grund müßten die „Hintergründe der Tat rückhaltlos aufgeklärt und die Täter konsequent bestraft werden“, forderte Plickert. „Wenn Frauen sexuell belästigt werden, ist das ein massiver Eingriff in ihre Grundrechte. Das ist nicht hinnehmbar. Deshalb darf bei der Aufklärung der Übergriffe nichts verschwiegen werden, auch wenn das zu Ergebnissen führen sollte, die politisch unangenehm sind.“

Zugleich warnte der Polizeigewerkschafter davor, alle Asylbewerber als potentielle Straftäter zu diffamieren. „Wenn es Flüchtlinge gibt, die ein Problem damit haben, sich in unsere offene Gesellschaft zu integrieren und die Freiheitsrechte anderer Menschen zu respektieren, müssen wir mit aller Härte des Gesetzes gegen sie vorgehen. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, daß der Großteil der Menschen zu uns gekommen ist, weil sie in ihren Herkunftsländern ihres Lebens nicht mehr sicher sind“, unterstrich Plickert.

Nach den Sexattacken rund um den Kölner Hauptbahnhof werden immer mehr ähnliche Fälle bekannt. Auch in Hamburg kam es Silvester zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen. Nach Polizeiangaben gingen Gruppen von Männern mit „südländischem oder arabischem Aussehen“ auf junge Frauen los und belästigten diese. Den Opfern wurden zudem Geldbörsen, Papiere, Bargeld sowie Smartphones gestohlen. Die Behörde geht von mindestens zehn Fällen aus. Ein Opfer berichtete der Bild-Zeitung: „Auch zwei Freundinnen von mir wurden auf der Großen Freiheit angegriffen. Einige Mädchen wurden wie Vieh gejagt. Daß so etwas in Hamburg möglich ist, macht mich fassungslos. Da bekommt man Angst, auf dem Kiez zu feiern.“ Viele Mädchen seien in Panik zu Türstehern geflohen. Auch in Stuttgart gab es ähnliche Fälle. 

Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, forderte unterdessen eine bessere Ausstattung und mehr Personal für die Polizei.  An vielen Bahnhöfen sei mittlerweile keine Bundespolizei mehr präsent, weil diese „an anderer Stelle verwendet wird, zum Beispiel in Süddeutschland, um dort Flüchtlingsbetreuung zu machen“.Wendt beklagte mit Blick auf die Asylkrise, daß viele Menschen, die ihre Ängste schilderten, in die rechtsextreme Ecke gedrängt würden. Er warnte zudem davor, daß der Konsens, wonach der Staat Träger des Gewaltmonopols sei, aufgekündigt werden könnte. 

Köln stellt Verhaltensregeln für Frauen online

„Wenn dieser Konsens aufgekündigt wird, weil die Menschen das Gefühl haben, der Staat beschützt sie nicht mehr, dann werden sie auch nicht mehr zum Verzicht auf Gewalt bereit sein.“

Nach dem von Oberbürgermeisterin Reker einberufenen Krisentreffen am Dienstag versuchten die Verantwortlichen den Verdacht zu zerstreuen, bei den mutmaßlichen Tätern handele es sich um Asylbewerber. Reker sagte, die Behörden hätten keinerlei Hinweise dafür, daß es sich bei den Gesuchten um Flüchtlinge handele. Entsprechende Vermutungen halte sie für „absolut unzulässig“. Nach Angaben von Polizeipräsident Albers konnten bis Dienstag noch keine Täter ermittelt werden. Die Opfer könnten keine Tatverdächtigen identifizieren, das erschwere die Arbeit. Die Polizei hofft, durch die Auswertung von Videomaterial den Tätern doch noch auf die Spur zu kommen.

Um ähnliche Übergriffe künftig zu verhindern, will die Kölner Polizei bei Großveranstaltungen ihre Präsenz verstärken. „Wir müssen alles dafür tun, daß sich solch ein Ereignis nie wieder wiederholt“, sagte Albers.  Zudem werde geprüft, ob gegen polizeibekannte Taschendiebe sogenannte „Bereichsbetretungsverbote“ ausgesprochen werden können. Damit sich junge Frauen und Mädchen künftig besser vor sexuellen Übergriffen wie an Silvester schützen können, kündigte Reker an, entsprechende Verhaltensregeln ins  Internet zu stellen. Dazu gehöre es, zu Fremden eine Armlänge Distanz zu halten, innerhalb der eigenen Gruppe zu bleiben und sich von dieser nicht trennen zu lassen.

Foto: Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht: Bislang keine Täter ermittelt