© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Blockierter Fortschritt
Nepal: Wenig genesen von den Folgen des Erdbebens, erschüttert nun der Unmut der Hindus den Himalayastaat
Marc Zoellner

Noch immer gleichen nepalesische Städte einem Katastrophengebiet. Nur die Zeltstädte am Rande der Siedlungen scheinen oberflächlich zu prosperieren. Etliche tausend Menschen harren seit dem Frühjahr 2015 mit ihrer wenigen verbliebenen Habe dort aus, und stehen stundenlang an den Ständen der internationalen Hilfsorganisationen an, um rationiert Wasser, Reis und Kerosin zu bekommen.

Acht Monate ist es her, daß Nepal vom schlimmsten Erdbeben seit 81 Jahren heimgesucht wurde. Etwa 90 Prozent der Wohnungen der betroffenen Gebiete, fielen durch die Wucht der Katastrophe sowie zeitweise auftretende Nachbeben in sich zusammen. 9.000 Menschen fanden den Tod. 

Grenzblockade erschwert die prekäre Situation 

Doch seit der Erholung vom ersten Schock herrscht Stillstand im Hochgebirgsland. Internationale Spendengelder in Höhe von rund 3,5 Milliarden Euro – allein die Deutschen sammelten über 60 Millionen Euro für Nepal zusammen – wurden von der Regierung lange Zeit gar nicht erst reklamiert, später wiederum den nunmehr Obdachlosen und Hinterbliebenen nur schrittweise ausgezahlt. Ganze 86 Euro sollten die Opfer des Bebens pro Person von Kath-mandu zugewiesen bekommen, mit dem Verweis, sich davon Winterkleidung zu kaufen. Wer von den Nepalesen überhaupt diesen Notgroschen erhielt, zweckentfremdete ihn kurz darauf auf den blühenden Schwarzmärkten für Nahrung, Heizöl und dringend benötigte Medikamente.

„Die Leute haben den Sommermonsun nur mit knapper Not überlebt“, warnte Jagannath Kurmi, Vorsitzender der nepalesischen Hilfsorganisation National Network of Community Disaster Management Committee (N-CDMC).

Die Vorräte der lokalen Bevölkerung, aber auch der Regierung, um diese gerade in den Gebirgsregionen klirrend kalte Jahreszeit zu überstehen, sind jedoch schon lange aufgebraucht. Gerade einmal für eine Woche waren die Reserven an Kerosin der staatlichen Nepal Oil Corporation (NOC), der einzigen nepalesischen Organisation mit Importlizenz für Erdölprodukte, ausgelegt. Seit der Grenzblockade zu Indien herrscht auch in ihren Tanks gähnende Leere. Ethnische und innenpolitische Konflikte sowie ein bizarrer Streit mit dem um regionale Vormacht ringenden Nachbarn im Süden wirken sich spürbar auf den Wiederaufbau des Landes aus.

„Normalerweise würden jede Nacht Hunderte indische Lastwagen diesen Grenzposten überqueren“, erklärte Shiva Patel, ein führender Politiker der Nepal Sadbhawana Party (NSP) auf Fragen der Nachrichtenagentur AFP. „Wir haben den Übergang blockiert, und wir werden nicht nachgeben, bis die Regierung uns anhört und Änderungen zum Grenzverlauf in die neue Verfassung einfügt.“

Patels NSP sieht sich als Vertreter der Madhesi, einer im Terai, dem südlichen Tiefland Nepals ansässigen, rund sechs Millionen Menschen zählenden ethnischen Minderheit. Diese wiederum werfen der Regierung in Kathmandu vor, von der neuen nepalesischen Verfassung nicht genügend berücksichtigt, vielmehr sogar diskriminiert zu werden.

Eigentlich sollte letztere einen Meilenstein der neueren Geschichte der Himalayanation darstellen: Nach Jahrzehnten blutiger Bürgerkriege sowie dem Sturz der Monarchie erhielten insbesondere die Frauen des Landes Gleichberechtigung. Auch Schwulen und Lesben wurde Schutz vor Diskriminierung gewährt. Einmalig ist das Grundrecht der Bürger auf eine „saubere und intakte Umwelt“. Künftig gälte Nepal überdies nicht mehr als hinduistischer, sondern als säkulärer Staat.

Ethnische Vielfalt behindert Suche nach Grundkonsens 

Als die Verfassunggebende Versammlung Nepals den Entwurf am 20. September 2015 mit 507 von 598 Stimmen genehmigte, herrschte Hochstimmung auf den Straßen der Hauptstadt. Doch den zumeist hinduistischen Madhesi war nicht zum Feiern zumute. Sämtliche ihrer Abgeordneten boykottierten die Abstimmung. Bereits am nächsten Tag ließen sie durch Indien, mit dessen nördlichen Völkern sich die Madhesi kulturell eng verbunden fühlen, der Regierung eine diplomatische Note von besonderer Brisanz zukommen. In dieser forderte Neu-Delhi Kathmandu dazu auf, ganze sieben Artikel der soeben verabschiedeten Verfassung zu ändern: So sollte auch Hindi neben dem im Lande hauptsächlich gesprochenen Nepali als Amtssprache gelten sowie die Siedlungsgebiete der Madhesi in eine einzige Provinz zusammengeschlossen werden, um ihnen künftig mehr innenpolitisches Gewicht zu verleihen.

Doch anders als von Neu-Delhi erwartet, präsentierte die kleine Gebirgsrepublik dem großen Nachbarn diesmal nichts als die kalte Schulter. „Nepal ist von ethnischer Vielfalt geprägt. Da ist es nicht möglich, jedem alles recht zu machen“, erklärte Deep Kumar Upadhyay, der nepalesische Botschafter in Indien, am Tag darauf und nicht ohne ironisch anzumerken, daß „unser Nationaltier ja immer noch die heilige Kuh ist und sämtliche Hindugefühle somit abgedeckt sind.“

Dieser Affront ließ den bis dahin innernepalesischen Verfassungskonflikt in Gewalt eskalieren. In der Stadt Tikapur stürmten Hunderte aufgebrachte Madhesi das örtliche Polizeirevier, erschlugen sechs Polizisten mit Spaten und Bambusstöcken und verbrannten einen weiteren bei lebendigem Leib. Unzählige Sympathisanten der NSP besetzten die wenigen befahrbaren Grenzübergänge Nepals zu Indien, um lebensnotwendige Hilfs- und Kerosinlieferungen zu blockieren. Denn aufgrund seiner geographischen Sonderlage ist Nepal auf den Handel mit seinem indischen Nachbarn vital angewiesen. Die einzigen beiden Fernstraßen nach China wurden durch das Erdbeben vom April 2015 unpassierbar.

Naturgemäß streitet Indien die Unterstützung der Madhesi-Blockade ab. Doch Nachrichten vom Tod indischer Staatsbürger in den immer öfter aufflammenden Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, die bislang über 50 Opfer auf beiden Seiten forderten, zeichnen ein anderes Bild. Mit Neu-Delhi selbst konferiert Kathmandu seitdem bevorzugt über die UN-Versammlung.

In ihre Verfassung möchte sich die nepalesische Regierung diesmal nicht mehr vom großen Nachbarn hineinreden lassen, selbst wenn es hieße, den Opfern des Erdbebens diesen Winter weitere Lasten aufzubürden. Doch zur Freude Kathmandus hat Pekings staatlicher Öl-Multi CNPC bereits zugesagt, 1,3 Millionen Liter Brennstoff als „Geste des guten Willens“ kostenfrei in die Himalayarepublik zu liefern. Nur den Wiederaufbau seiner Straßen müßte Nepal vorher in den Griff bekommen.