© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Eine herkulische Aufgabe
Siemens: Im Jubiläumsjahr steht der Weltkonzern unter Druck seiner mehrheitlich ausländischen Investoren
Thomas Fasbender

Elektrifizierung, Digitalisierung, Automatisierung – auf diese drei Säulen will Joe Kaeser künftig das Siemens-Geschäft stützen. Die „Vision 2020“ begleitet ein neuer Werbespruch: „Ingenuity for life“. Er paßt zu dem 58jährigen, der nach einem Fachschulstudium 1980 in dem Konzern (Slogan damals: „Ein Name hält Wort – Siemens“) seine Karriere startete. Schon 1987 stieg der Niederbayer, seinerzeit noch unter dem autochthonen Namen Josef Käser, zum kaufmännischen Leiter bei Siemens in Malaysia auf.

In Kalifornien, bei Siemens Microelectronics, amerikanisierte er zu Joe Kaeser. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland peilte die Siemens-Aktie 200 Euro an – nach dem Platzen der New-Economy-Blase ging es dann bergab in Richtung 40 Euro. Damals hielt Heinrich von Pierer noch das Ruder in der Hand. 2005 begann die kurze Karriere des Klaus Kleinfeld. Der Österreicher Peter Löscher, der ab 2007 den Konzernumbau organisieren sollte, hielt immerhin bis 2013 durch. Seither ist Kaeser mit der Aufgabe betraut.

Nur Sparten-Veräußerungen sicherten das Ergebnisziel

Noch ist offen, wer stärker ist: der 168 Jahre alte Koloß, der sich nur widerwillig in die neue Zeit biegen läßt, oder Kaeser, der sich mit dem Selbstbewußtsein des altgedienten Siemensianers seiner herkulischen Aufgabe stellt. Sein mächtigster Gegner ist die Mentalität des Großkonzerns mit seinem Mitbestimmungsapparat, dem Sozial- und Bestandsschutz. Ob Kaeser oder ein anderer, jeder Vorstands­chef kämpft an zwei Fronten, wenn er Veränderungen durchsetzen will. Allein im Geschäftsjahr 2014/15 fielen der Restrukturierung 13.000 Mitarbeiter zum Opfer. Die meisten in Deutschland. Daß in den Wachstumsmärkten 33.000 Stellen geschaffen wurden, tröstet die Arbeitnehmer hierzulande wenig. Nur noch zehn Prozent des Umsatzes macht Siemens im Heimmarkt – beschäftigt dort aber noch ein Drittel aller Mitarbeiter.

Die meisten davon wünschen sich endlich wieder Friede am Arbeitsplatz und mehr Sicherheit; viele sehnen sich nach den alten Verhältnissen. Wer vor zwanzig, dreißig Jahren bei „Mutter Siemens“ eintrat, erwartete häufig eine Lebensstellung. Doch längst revolutionieren neue Wettbewerber mit ihren Produkten und Ideen ganze Märkte. Wie der vor 200 Jahren geborene Gründer Werner Siemens, der mit Johann Georg Halske in einer kleinen Werkstatt begann. Mit jeder neuen Erfindung wuchs die Firma, die schon im 19. Jahrhundert zu den weltweit größten Elektrounternehmen zählte. Wie Apple oder Google, nur gibt es bei denen keine Beamtenmentalität, auch nicht bei den Startups in München oder Wien. Kein Wunder, daß Siemens sich in keiner einzigen internetbasierten Technologie als Massenanbieter etablieren konnte.

Aktivitäten wie Halbleiter, Bauelemente, PC, Unterhaltungselektronik, Kommunikation und Autoelektronik wurden inzwischen abgestoßen. Zugekauft wurde lediglich in der Gesundheitstechnik und bei der Windkraft. Im vergangenen Geschäftsjahr wurden sogar die Haustechnik (an Bosch) und die Hörgeräte (an Finanzinvestoren) veräußert. Der Erlös von drei Milliarden Euro sicherte das Ergebnisziel von 7,4 Milliarden Euro – anderenfalls wäre das Resultat niedriger ausgefallen als im Vorjahr (5,5 Milliarden Euro). Noch ist Siemens mit seinen 348.000 Mitarbeitern in 195 Ländern und 76 Milliarden Euro Umsatz ein Riese. Seine Produkte – Automatisierungssoftware, U-Bahnen und Hochgeschwindigkeitszüge, Steuerungstechnik für Großanlagen, Computertomographen, Kompressoren, Gasturbinen, Offshore-Windräder, Brandschutzanlagen und Tausende andere – zählen technologisch zur Weltspitze. Doch kritisch ist die Wahrnehmung durch den Markt, die sich im sogenannten KGV ausdrückt, dem Verhältnis von Aktienkurs zum Gewinn. Der Aktienkurs ist nämlich keine Belohnung für vergangene, sondern eine Wette auf zukünftige Erfolge.

Fünf Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung

Der ebenfalls über hundertjährige US-Rivale General Electric (GE) legt ein KGV von rund 16 vor. Auf dem gleichen Niveau bewegt sich die schwedisch-schweizerische ABB. Die französische Alstom, die ihr gesamtes Energiesegment 2014 an GE abgestoßen hat und sich auf Bahntechnik und Züge konzentriert, kann sogar ein KGV von rund 20 vorweisen. Mit gerade einmal zehn sieht Siemens dagegen alt aus. Wenn Kennzahlen wie das KGV vermuten lassen, daß die Teile eines Unternehmens mehr wert sind als das Ganze, kreisen sofort Hedge- und Investmentfonds über der Hauptverwaltung. Einheimische sind das in den seltensten Fällen. Schon heute gehört Siemens zu 55 Prozent ausländischen Investoren.

Kaeser ist also unter Druck. Abgestraft wird sein Unternehmen dafür, daß es am Kuchen der weltweit ständig neu entstehenden Technologien und Produkte einen zu geringen Anteil hat. Da ist es nur konsequent, daß der Siemens-Chef 2016 fünf Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgeben will. Um die Mentalitätsbarriere zu durchbrechen, sollen künftig auch externe Querdenker und Startups finanziert werden. In Bayern, Israel und China entstehen Zentren für kreative Ingenieure. 100 Millionen Euro sollen in den kommenden Jahren fließen, um mehr Verbesserungsvorschläge aus dem eigenen Haus zu generieren.

Mit dem Verbleib in der Energietechnik geht Siemens ein hohes Risiko ein. Die Sparte, äußerst abhängig von globalen politischen Trends und Entwicklungen, trägt derzeit rund 17 Prozent zum Umsatz bei. Technisch sucht das Siemens-Kronjuwel, die 400-Megawatt-Großgasturbine mit einem Wirkungsgrad über 60 Prozent, in der Welt seinesgleichen. Allerdings auch Kundschaft. In Europa sieht es derzeit mau aus. Die Versorgungsunternehmen sind massiv verunsichert. Wie rasch führt die EU-Klimapolitik zum Ausstieg aus der Kohle? Zwingt die Energiewende zu massiven Investitionen in den Netzausbau? Wie teuer wird das Gas, wenn Brüssel die Abhängigkeit von russischen Lieferungen verringern will? Kommt es zu einer Renaissance der Kernenergie?

Langfristig stehen die Chancen nicht schlecht, vor allem in den Schwellenländern. Dort ist die dezentrale Stromerzeugung auf Basis erneuerbarer Energien allenfalls lokal von Bedeutung. Bei der Versorgung der urbanen Zentren konkurrieren Gas und Atom. Je aufwendiger die Sicherheitsanforderungen an die Kernkraftwerke, desto wettbewerbsfähiger werden Gasturbinen. Um diesen Markt kämpfen GE (Marktanteil heute 57 Prozent) und Siemens (23 Prozent). 2015 konnte Kaeser persönlich einen ägyptischen Acht-Milliarden-Euro-Auftrag sichern.

Und es bleibt immer noch China als ein für Siemens jedenfalls extrem wichtiger Markt. Die Chancen dort seien „weiterhin gewaltig“, glaubt Kaeser. Er wird allen Optimismus nötig haben, wenn die Aktionäre am 26. Januar auf der Jahreshauptversammlung in München kritische Fragen stellen.