© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

„Gier verdrängt den Glauben“
Dubai: Der Islam darf nicht stören. Er wird pragmatisch gehandhabt. Baden im Bikini – na und?
Volker Keller

Als ich ins Flugzeug stieg, um meine Heimreise anzutreten, war ich trunken von magischen Bildern. Nur eine kleine Frage blieb noch offen: Was soll ich dazu sagen? Liegt auf  Dubai der Segen einer neuen Welt von morgen oder der Fluch von übermorgen?

Zehn Tage zuvor war ich mit einem Taxi im neuen Hochhausviertel Dubai Marina angekommen und klingelte meinen Vermieter Shahid aus Pakistan aus dem Schlaf. Er führte mich in mein gemietetes Zimmer im 37. Stock und zeigte mir vom Balkon aus die freie Sicht auf den in Dunkel gehüllten Persischen Golf. Zu müde, um zu jubeln, stellte sich mir nur eine Frage: Wie sollte ich hier ein Auge zumachen? Das Gebäude Beachfront Living wies einen Makel auf: drei Baustellen vor der Haustür und eine Nachtschicht von 200, 300 Bauarbeitern, die hämmerten und brüllten, schwere Maschinen bedienten und mit Lastern hin und her kurvten – nachts um zwei Uhr.

Die neue Welt schläft nicht, warum sollte ich schlafen und meine Zeit unproduktiv vertun? Eine Parole vom Flughafen fiel mir ein: „Growing stronger every day!“, und ich fügte still für mich  hinzu: „… and every night!“ Schlafen ist eine Marotte der alten Welt.

Manch Emirati sieht Arbeiter wie Leibeigene 

Am nächsten Morgen hämmerte und hupte es in meinem Kopf. Trotzdem verspürte ich Lust, mich von der gebohnerten und gewichsten Metro zur Emirates Mall bringen zu lassen. Undenkbar, daß hier ein Jugendlicher seine schmutzigen Schuhe auf ein Polster legte. Ein Strafenkatalog informiert über die Höhe der Bußgelder für Fehlverhalten aller Art: Essen in der Bahn 100 Dirham, Verschmutzung 500 Dirham (120 Euro). Gibt sich hier der autoritäre Staat zu erkennen? Schüchtert seine Bürger ein? Oder wird nur ein Minimum öffentlichen Benehmens sichergestellt? Stockhiebe im Nachbarland Katar für drei deutsche Metro-Sprayer – ist das Erziehung oder Folter? Singapur ist genauso poliert wie Dubai, aber teurer. Kaugummi auf die Straße spucken kostet sogar 500 Dollar.

Eine gewaltigere Mall hat die Welt nicht zu bieten. In dieser „Kleinstadt“ stehe ich vor einem Aquarium mit Haien, bestaune Schlittschuhläufer auf einer Eisbahn und lasse mich von einer Art Niagarafall bespritzen. Dubai kennt keine Marktplätze wie die Städte der alten Welt Europas, wo die großen Straßen zusammenlaufen und ein Zentrum und Treffpunkt unter freiem Himmel bilden für Rendezvous und Revolution. Dubai kennt keinen Blick in einen freien Himmel – zumindest nicht in den Monaten Mai bis September mit Temperaturen bis zu 45 Grad Celsius. Die Stadtbewohner flüchten sich zu den Klimaanlagen vor  künstlicher Kulisse und lassen sich lieber drinnen vom kapitalistischen Imperativ „Do-buy!“ erhitzen.  Wohin sonst? Oder sollen sie sich  draußen grillen lassen wie Hühnchen? Wer Ausländer ist, nimmt nach Möglichkeit seinen ganzen Jahresurlaub und macht sich aus dem Staub. Es sei denn, er ist Inder oder Äthiopier und kann auf seinen kleinen Lohn für große Leistung nicht verzichten. In der Mittagshitze brauchen die Bauarbeiter auf den Baustellen nicht in der Sonne zu brüten, aber vorher und nachher. Nur ein Hitzschlag rechtfertigt eine Arbeitsunterbrechung. Ein indischer Gastarbeiter, der als Kellner einen besseren Arbeitsplatz hatte als seine Landsleute auf dem Bau, erzählte, daß er im Sommer  manchmal weint, wenn er sie schuften sieht. Das hätten sie nicht verdient, denn „Dubai ist durch ihren Schweiß und ihr Blut entstanden“.

Was soll ich dazu sagen? Sklaverei? Manche Einheimische sehen die Arbeiter und Hausmädchen wie Leibeigene an, die ihnen gehören. Manche ziehen sogar ihre Pässe ein, dann können sie nicht mal weglaufen. Aber warum kommen so viele junge Männer und Frauen nach Dubai? Und lieber nach Dubai als ins benachbarte Doha oder Riad? Ein Taxifahrer aus Äthiopien zum Beispiel. Sieben Tage die Woche arbeitet er täglich 14 Stunden, und das drei Jahre lang. Dann hat er genug Geld gespart, daß er sich in Addis Abeba ein eigenes Taxi leisten kann. Die Gastarbeiter protestieren nicht, weil sie unbedingt bleiben wollen. Wer protestiert, der fliegt. Die Unternehmer genießen ihr Paradies – nicht mal das Wort „Gewerkschaft“ existiert hier.

Der Herrscher schenkte den Kirchen eine Gelände

In Dubai ist der Kapitalismus radikal, nicht der Islam. Der Kapitalist fühlt sich verstanden und geliebt in den Freizonen, wo er keine Steuer bezahlen muß. Der Arbeiter zahlt auch keine. Und ist, anders als zu Hause, krankenversichert. 

Den Taxifahrer aus Äthiopien hatte ich gefragt, ob er ein Einheimischer, ein Emirati, sei. Er lachte und erklärte mir, daß Emiratis in Behörden arbeiteten, oder sie hätten hohe Posten in Firmen. Einfache, schlecht bezahlte Tätigkeiten  ließen sie von Gastarbeitern erledigen.

 Der Polizeidienst wird gut bezahlt und ist Emiratis vorbehalten – aus gutem Grund. Manche Deutsche sehen durch 20 Prozent Migranten das eigene Land überfremdet, in den Emiraten liegt die Quote der Fremden bei 85 Prozent. Die Staatsbürger gehören einer Minderheit an. Um so wacher beobachtet die Polizei jede Regung der Mehrheit. Obwohl – welche Polizei? Polizisten sind kaum zu sehen. Lag das an der geringen Kriminalität? Oder wie ein spanischer Mitarbeiter einer US-amerikanischen Computerfirma vermutete, überall habe Geheimpolizei Augen und Ohren offen. Auch in den Gottesdiensten der verschiedenen Kirchen am Rande der Stadt.

In Jebel Ali liegt der Industriehafen, und dort beginnt die Wüste. Der Herrscher von Dubai schenkte den Kirchen ein Gelände für ihre Gottesdienste. „All Churches“ heißt die Endstation einer Buslinie. Der Name der Bushaltestelle zeigt an, daß die emiratischen Muslime die Existenz der Kirchen nicht verschweigen wollen oder sich ihrer schämen wie im Nachbarland Saudi-Arabien. Der Spanier kam gerade von einem katholischen Gottesdienst. Er lobte die Religionsfreiheit in Dubai und benannte die Grenzen: Die Pfarrer dürften nicht politisch predigen und nicht missionieren, dann würden sie vom Staat respektiert. Er wisse, daß geheime Polizisten auch die Gottesdienste beobachteten. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagt sich die Minderheit im Land. 

Gemessen am europäischen Standard ist das keine Religionsfreiheit. Oder einfach mal das europäische Maß vergessen und akzeptieren, daß die Welt anderswo anders ist? Bei einer der wenigen Gelegenheiten mit einem Emirati zu sprechen, fragte ich ihn nach seinem Glauben. Der Moslem  beschrieb mir seine Einstellung: „Mohammed sagte, tue jedem Menschen Gutes, unabhängig von seiner Religion, aber gehe nicht seinen Weg mit, bleibe bei deiner Religion.“ Er könne mit Hindus und Christen befreundet sein, aber im Glauben gebe es eine „rote Linie“, niemals würde er eine Kuh anbeten. Gleichwohl lassen die Emiratis zu, daß auch Hindus ihre Pujas in Dubai feiern. 

Die Kirchen liegen am Rande der Stadt. Etwa, weil das Zentrum Moscheen vorbehalten ist. Aber im Zentrum frage ich mich: Wo haben sie ihre Gotteshäuser versteckt? Um die Dubai Mall gruppieren sich Luxushotels, eine Teichlandschaft mit welthöchster Fontäne, ein exklusiver Basar und – der höchste Turm der Welt, der Burj Khalifa. Downtown ist moscheefreie Zone. Kein Muezzin ruft von keinem Minarett. Mein Vermieter Shahid urteilte hart: „Hier ist das Geld die Religion. Gier verdrängt den Glauben.“ 

Wie Dubai sich selbst versteht, zeigen Sprüche des Herrschers Mohammed bin Rashid Al-Maktoum, wie Orakel zieren sie öffentliche Gebäude. Am Fuße des Burj Khalifa läßt der Scheich verlauten: „The word impossible is not in the leader’s dictionnaries. No matter how big the challenges, strong faith and will overcome them.“ Nichts  ist einem starken Willen unmöglich – Dubai präsentiert sich nicht als gläubiges Land, sondern als erfolgreiches. Der Islam darf nicht stören. Er wird pragmatisch gehandhabt. Baden im Bikini – na und? Hauptsache die Touristen fühlen sich wohl und bringen Dollars und Euro!

In der neuen Welt am Golf geht es Einheimischen und Touristen gut – während das alte Arabien Bagdads, Damaskus’ und Kairos untergeht. Die Emirate und ihre Nachbarn investieren ihre Kraft in die Erhaltung der politischen Stabilität, die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der religiösen Mäßigung. Der Erfolg gibt den Herrschern recht. Auch andere Länder wie Libyen verfügen über große Öleinkommen, aber sie entwickeln ihre Länder nicht weiter wie die Emirate. Dubai investiert in Häfen und Flughafen, in Gebäude auf dem Trockenen und auf dem Meer, macht sich zur Drehscheibe von Handel und Tourismus, zieht mit seinem Geld um die Welt und spielt überall mit. Schafft ein weiteres Dubai in Akaba in Jordanien. Lockt die Intelligentesten aus aller Welt an.

Mein Vermieter Shahid studierte in Pakistan Finanzwirtschaft. In der halben Welt machte er Geschäfte, zog von Kontinent zu Kontinent, kam nach Dubai, mietete sich 30 Apartments am Golf, vermietete sie weiter an Touristen und lebte gut davon. Als ich bei ihm wohnte, begann er schon, seine sieben Sachen zu packen. Die Sicht auf den Golf würde bald verbaut sein und seine Apartments wertlos. Thailand war sein neues Ziel. Der homo mobilis kennt das Wort „Heimat“ nicht. Er ist ein Vagabund. Diesen Menschenschlag lockt Dubai an. Auch die Einheimischen lösen ihre Begriffe auf. Was war noch gleich „Tradition“? Das Leben in der Wüste? Mit Geländewagen die Sanddünen rauf und runter rasen, „Dune-Bashing“ – war sie das? Ist die schöne, neue Welt Segen oder Fluch? Urlaub in Dubai – unbedingt! Leben in Dubai – niemals!