© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Aus Deutungen wurde ein Dogma
Literaturwissenschaft: Günter Scholdt hat ein historisch-politisch erhellendes Werk über die in der Weimarer Republik tobende große Autorenschlacht zum Ersten Weltkrieg vorgelegt
Thorsten Hinz

In der Lithographie von George Grosz „Der weiße General“ aus dem Jahr 1922 ist vieles zusammengefaßt, was die Heutigen über die Weimarer Republik und ihre Kultur zu wissen glauben. Ein hagerer, ordensdekorierter, monokelbewehrter Offizier, ein Weltkriegs-Zombie, schreitet über ein Schlacht- und Leichenfeld. In der Hand hält er ein Schwert, an der Seite baumelt eine Pistolentasche, die Hose ist blutbespritzt, am Stahlhelm prangt ein Hakenkreuz.

Der instinktiven Abscheu des Betrachters vor dem Milieu, das angeprangert wird, entspricht die Sympathie für den Künstler, der die Gefahr früh erkannt und vergeblich vor ihr gewarnt hatte. Grosz steht für die demokratische, weltoffene, friedfertige, gegen Rechts kämpfende Kultur, die 1933 der Übermacht der Kriegsverherrlicher, Antidemokraten, Schollenverteidiger und Faschisten erlag. In dem 1978 erschienenen Klassiker „Die Kultur der Weimarer Republik“ von Jost Hermand und Frank Trommler wurde das Bild emblematisch auf einer der ersten Seiten plaziert. 

Solche kulturbetrieblichen Dogmen können sich als Wahrheiten behaupten, weil ihnen nicht oder nicht kompetent widersprochen wird. Der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt zeichnet in seinem neuen Buch nach, wie sie sich bereits in den 1920er Jahren in der Auseinandersetzung zwischen Schriftstellern und Publizisten über den Ersten Weltkrieg verfestigt und durchgesetzt haben. Zu Recht spricht er von einer „Autorenschlacht“. In ihr ging es um nicht weniger als das Selbstbild Deutschlands nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die „Schlacht“ war die Vorwegnahme und Synthese des Historiker- und deutsch-deutschen Literaturstreits, die kurz vor und unmittelbar nach dem Mauerfall losbrachen.

Es standen sich zwei Lager gegenüber: Zu den bekanntesten Vertretern auf republikanisch-pazifistischer Seite gehörten Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Ludwig Renn und Arnold Zweig. Auf der Gegenseite waren die Brüder Jünger, Werner Beumelburg, Edwin Erich Dwinger und Ernst Wiechert die wohl Prominentesten. Scholdt geht von einem erweiterten Literaturbegriff aus, der neben den Texten auch die literarische Infrastruktur einbezieht, also auch Presse, Rundfunk, Film, Theater, Preisgremien. Und da zeigt sich, daß das Feld keineswegs, wie häufig angenommen, von rechten und nationalistischen Akteuren bestimmt wurde. Die großen Verlage waren überwiegend liberal gesinnt, ebenso die überregionalen Zeitungen, die sich im Feuilleton auch stramm-linken Positionen öffneten.

In der einflußreichen Weltbühne bestanden Siegfried Jacobsohn, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky sofort und unerbittlich auf der deutschen Kriegsschuld, wie sie in Versailles dekretiert wurde. Tucholsky sah im Frühjahr 1919 – die Hungerblockade war noch nicht aufgehoben – „das Heil“ für Deutschland „von außen kommen“ und feierte den Sieg der Entente als Befreiung: „der Feind befreit uns von den Ketten. Die Deutschen selber tun es nicht.“ 

Es ging um mehr als um die Deutung des verlorenen Krieges. Berührt war auch das August-Erlebnis von 1914, das man durchaus als eine zweite, geistig-moralische Reichsgründung bezeichnen kann und das nun diskreditiert und bestritten wurde – eine These, die der amerikanische Historiker Jeffrey Verhey

gerade wieder neu aufgelegt hat. Mit ausdrücklichem Bezug darauf betont Scholdt die dynamisierende Wirkung der patriotischen Stimmung in Deutschland. Der Bund der Einzelstaaten wurde nun wirklich zu einem Einheitsstaat, die Konflikte und Aversionen zwischen Preußen und Süddeutschland, zwischen Protestanten und Katholiken wurden nebensächlich. Die deutschen Juden zeigten sich nicht weniger patriotisch-begeistert und meldeten sich als Kriegsfreiwillige, gleichzeitig wurden antisemitische Vereine verboten. Der geschlossene Burgfrieden etablierte endlich auch die Sozialdemokraten als staatstragende Kraft. In den Maßnahmen und Initiativen zur klassen- und schichtenübergreifenden Lastenverteilung und Solidarität wollte die SPD sogar sozialistische Errungenschaften erkennen. Mit einer unglaublichen Kraftanstrengung brachte Deutschland die weit überlegene Koalition der Gegner bis an den Rand der Niederlage.

Im November 1918 die Vergeblichkeit aller Mühen präsentiert zu bekommen, war ein ungeheurer Schock. Um so mehr schmerzten die Konsequenzen, die Tucholsky und andere daraus öffentlich zogen, und natürlich blieben sie nicht unwidersprochen.

Die Kräfteverhältnisse aber waren eindeutig: Arnold Zweigs 1927 erschienener Roman „Streit um den Sergeanten Grischa“ erzielte bis 1933 eine Auflage von 300.000 Exemplaren. Ludwig Renns „Krieg“ und Ernst Glaesers „Jahrgang 1902“ wurden gleichfalls im sechsstelligen Bereich verkauft. Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ brach mit 910.000 Exemplaren alle Rekorde und übertraf die Gesamtzahl, die die „rechten“ Autoren zusammen erreichten. Im Ausland wurden weitere Millionen Exemplare verkauft. Hollywood verfilmte das Buch. Zum Vergleich: Ernst Jüngers „Stahlgewitter“ lag im März 1929 bei 29.000 Exemplaren.

Worin unterschieden sich die „rechten“ Kriegs- von den „linken“ Antikriegs-Büchern? Bei Hermand und Trommler heißt es, letztere hätten „die geschichtliche Situation klarer erfaßt“ und sich mit der „modernen Massengesellschaft“ auseinandergesetzt, während die „Nationalisten“ der Entzauberung der Moderne ausgewichen seien und bloß ein militantes Gemeinschaftsgefühl dagegengesetzt hätten.

Scholdt hingegen weist auf die weitreichenden inhaltlichen Überschneidungen beider Lager hin; maximal fünf Prozent der jeweiligen Texte sorgten für den entscheidenden Unterschied. Er liegt darin, daß die pazifistischen Autoren dem Kriegserlebnis jeglichen Sinn absprechen, ausschließlich auf das Leiden und die Zerstörung verweisen und den Krieg als einzigen großen Betrug darstellen, während die „Heroischen Realisten“ die Daseinserhöhung, den Vitalitätsschub, die Selbstüberwindung hervorheben und deren Sinnhaltigkeit herausstellen.

Beide Standpunkte haben ihre Berechtigung, falsch werden sie erst durch ihre Verabsolutierung. Man muß beide Hauptprotagonisten, Jünger und Remarque, gelesen haben, um sich der Wahrheit anzunähern.

Das Mantra absoluter Sinnlosigkeit ergab sich aus der Niederlage und dem damit verbundenen Schock über die Vergeblichkeit. Ein Entlastungsbedürfnis schlug um in einen kulturellen und politischen Deutungsanspruch, der in den Siegernationen natürlich wohlgefällig rezipiert, übersetzt, verbreitet und verfilmt wurde. Die deutsche Selbstgeißelung bestätigte den Siegeskult der anderen. Das löste im nationalen Lager eine um so tiefere Erbitterung aus, die sich 1933 in der Bücherverbrennung entlud.

Ein besonders spannendes Kapitel ist der „Jüdischen Konversion“ gewidmet. Der jüdische Anteil unter den Intellektuellen, die in der Kriegsniederlage herumbohrten, war auffallend hoch. Die Betonung liegt auf den „Intellektuellen“, denn der Mobilisierungsgrad, der Blutzoll und Patriotismus der deutschen Juden im Krieg standen, wie gesagt, hinter denen der Nichtjuden keinen Millimeter zurück. Auch Arnold Zweig hatte sich 1914 kriegerisch und stramm national geäußert, und Kurt Tucholsky forderte gar noch Ende September 1918 Opferbereitschaft und eine Verschärfung der deutschen Kriegspropaganda. Was war seitdem geschehen?

Viele Intellektuelle fühlten sich durch den Armeedienst überfordert. Zweig kündigte 1917 an, ein „ruchloses und vielleicht unerhörtes Buch“ über den Krieg zu verfassen „als Rache dafür, daß man mein bis dahin reines und zurückgezogenes Leben in diese Kloake gezerrt hat“. Auch erschien im Angesicht der Niederlage eine Assimilation unter deutschnationalem Vorzeichen nicht mehr attraktiv. War Deutschland zunächst die Gewährsmacht für jüdische Interessen gewesen, so änderte sich das mit dem Kriegsglück der Alliierten. In Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ erfolgt der Justizmord am russischen Kriegsgefangenen am 2. November 1917, dem Tag der Balfour-Deklaration, die das Versprechen eines jüdischen Staates enthielt. 

Natürlich gibt es Gegenbeispiele wie den Frontkämpfer Victor Klemperer, der deutschnational gesinnt blieb, bis die Nationalsozialisten ihm irrsinnigerweise sein Deutschtum bestritten. Ernst Kantorowicz wurde sogar Mitglied eines Freikorps. Doch aufgrund der medialen Übermacht der Linksintellektuellen wurden sie viel weniger wahrgenommen. Das Kapitel gehört zum Interessantesten, was seit den Büchern Ernst Noltes zu diesem Problemkreis geschrieben wurde.

Der Blick des George Grosz, soviel ist nach der Lektüre klar, erschließt eine Teilwahrheit, die durch die Absolutheit, die ihr verliehen wurde, zur Geschichtslüge geworden ist. Günter Scholdt schöpft aus einem überquellenden Wissensfundus. Sein Buch handelt von den kulturellen Machtverhältnissen jener Zeit und zugleich vom Hier und Heute. So historisch erhellend und politisch belangvoll kann Literaturwissenschaft sein.