© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Am 1. Januar 1946 erhielt die Haftanstalt in Landsberg am Lech die Bezeichnung US War Criminals Prison No. 1 – „US-Kriegsverbrechergefängnis Nr. 1“. Die Einrichtung hatte bis dahin schon eine bewegte Geschichte hinter sich. Hier hatte Graf Arco-Valley nach dem Attentat auf Kurt Eisner seine Strafe genauso verbüßt wie Hitler und andere nationalsozialistische Führer nach dem gescheiterten Putsch von 1923 die Festungshaft; während der NS-Zeit wurde in einer Zelle der katholische Widerstandskämpfer Rupert Mayer für Monate gefangengehalten. Hitlers Aufenthalt in Landsberg mag dem Ort aus Sicht der amerikanischen Sieger eine symbolische Bedeutung gegeben haben, aber ausschlaggebend war die kaum. Der Militäradministration ging es in erster Linie darum, alle diejenigen Gefangenen zusammenzuziehen, die schon zum Tode verurteilt waren oder in Folgeprozessen des Nürnberger Tribunals vor Gericht gestellt wurden. Bis zum Mai 1946 war ein neuer Zentralbau mit Zellen für die Gefangenen fertiggestellt. Das Kriegsverbrechergefängnis Nr. 1 bestand bis 1958, bis 1951 wurden hier etwa dreihundert Todesurteile vollstreckt, die meisten durch Erhängen. Das ist heute praktisch genauso vergessen wie der Grad der öffentlichen Erregung, den nicht nur die Exekutionen selbst, sondern auch die Umstände der Inhaftierung und der Verhörmethoden in Westdeutschland auslösten. Immer wieder kam es nicht nur aus der Landsberger Bevölkerung, sondern auch von seiten der Angehörigen und der Kirchenführungen zu Protesten oder der Forderung nach Amnestierung. Letztlich ohne Erfolg, trotz eines aufsehenerregenden Berichts, den 1948 ein amerikanischer Richter – Edward LeRoy van Roden – der amerikanischen Regierung vorlegte. Dem war zu entnehmen, daß man Gefangene bei Verhören während des Malmedy-Prozesses eine Kapuze über den Kopf gezogen und sie dann mit Messingstangen geprügelt hatte, es waren ihnen Streichhölzer unter die Nägel getrieben und dann angezündet worden, vielfach hatten ihnen die Wachen – die übliche Prozedur, wie van Roden anmerkte – die Hoden zerquetscht. Obwohl die Angelegenheit nie vollständig geklärt werden konnte, kassierte man die Todesurteile, und die Verurteilten hatten lediglich ihre Haftstrafen in Landsberg abzubüßen.

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Bildungsbericht in loser Folge LXXXIII: „Immer wieder heißt es, daß wir in historischen Zeiten leben“, äußerte unlängst Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Philologenverbands: „Doch ich bezweifle, daß der Geschichtsunterricht noch in der Lage ist, die historische Dimension dieser heutigen Zeit zu vermitteln.“ Vollkommen zu recht macht Meidinger die „Kompetenzorientierung“ im allgemeinen und die Abwertung des Schulfachs Geschichte im besonderen für die Misere verantwortlich. Allerdings ist zu kurz gegriffen, nur auf den Pisa-Schock und die folgende Fixierung auf Verfahren, Standards und die Kernfächer Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften zu verweisen. Die Zerschlagung der Chronologie und die Absicht, den Geschichtsunterricht mit angeblich oder wirklich benachbarten Disziplinen – Politik, Wirtschaft, Geographie – zu verschmelzen, haben ebenso Tradition wie das Bemühen, die Bedeutung von Fachwissen auszutreiben. Seit dem Beginn der siebziger Jahre kamen von links wie von seiten der Bildungsbürokratie immer wieder Anläufe, um diese Ziele zu erreichen. In der Vergangenheit gab es dagegen noch erheblichen Widerstand. Davon kann heute keine Rede mehr sein, was die erwartbaren Folgen nach sich ziehen wird: Ohne Kenntnis der Geschichte keine Maßstäbe zur Beurteilung der Gegenwart, ohne Wissen um das, was war, kein Verständnis dessen, was ist und kommen kann, ohne historisches Bewußtsein kein politisches Bewußtsein.


Zur Aberkennung des Ehrendoktors für Konrad Lorenz durch die Universität Salzburg: „Der Beschlußdes Senats ist schäbig gegenüber dem Toten, (…) In der Sache ist er bodenlos.“ (Patrick Bahners, FAZ)

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Es kann keine Rede davon sein, daß in Landsberg lauter Unschuldige einsaßen, trotzdem wird man die Umstände der Hinrichtungen kaum anders als makaber bezeichnen müssen: die peinliche körperliche Durchsuchung am Vorabend der Vollstreckung, der merkwürdige Aufputz mit roter Jacke und schwarzer Hose, die die Todgeweihten anziehen mußten, die Prozession mit der „Rotjacke“ zum Galgen an jedem Freitag, die genau eineinhalb Minuten, die der Verurteilte hatte, um seine letzten Worte zu sprechen, deren Übertragung per Rundfunkanlage, die Bewirtung amerikanischer Offiziere und deutscher Behördenvertreter samt Ehefrauen an der Kaffeetafel des Kommandanten während des Geschehens, das dauernde Schlagen der Glocke in der Festungskirche, bis der Verurteilte durch die Falltür gestürzt war und man den Leichnam losgeschnitten und in einen einfachen Holzsarg geworfen hatte, während die Mitgefangenen in ihren Zellen das Deutschlandlied und „Ich hatt’ einen Kameraden“ sangen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 22. Januar in der JF-Ausgabe 4/16.