© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Bilder und Dialoge hatte er im Kopf
Nach vielen demütigenden Absagen: Der irische Schriftsteller James Joyce gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der literarischen Moderne
Markus Brandstetter

Im Januar des Jahres 1916 geht ein großer, sehr schlanker Mann in einem Mantel mit zu kurzen Ärmeln durch Zürich. Der Mann trägt eine kleine, aber starke Drahtbrille und hat einen borstigen, braunen Schnurrbart. Er ist erkennbar arm, aber seine Kleider sind von einer altmodischen Eleganz. Seine Miene wird von manchen für arrogant gehalten, so wie sein ganzer Habitus den Dichter und Denker erkennen läßt, wofür auch der durchdringende Blick des Mannes und seine fast schon übernatürliche Fähigkeit zur Konzentration spricht.

Obwohl er in der Schule und auf der Universität in Dublin keine Fremdsprachen außer Latein gelernt hat, das allerdings sehr gut, beherrscht der Mann, der in dem kalten Winter des Jahres 1916 erst 34 Jahre alt ist, aber älter aussieht, fließend Italienisch und sogar den schwierigen Triester Dialekt. Er spricht außerdem gut Französisch und Deutsch, ja, er versteht sogar Schweizerdeutsch gut genug, um einer Unterhaltung folgen zu können. Wiewohl er ein schwieriger, verkopfter und extrem gelehrter Mensch ist, der zu allem eine eigene Meinung hat, mit der er selten hinter dem Berg hält, ist unser Mann trotzdem gesellig, freundlich, trinkfest und kann Witze in fünf Sprachen erzählen.

Den „Ulysses“ hat er fast vollständig im Kopf

Während seiner langen Spaziergänge durch Zürich und auf die Züricher Hausberge redet er wildfremde Leute an, tratscht und disputiert mit Freunden und Bekannten, von denen er viele hat, und singt mit seiner dünnen, aber wohlklingenden Tenorstimme immer wieder italienische Opernarien, von denen er zwanzig oder mehr beherrscht. Profimusiker wie Philipp Jarnach, die ihn singen hören, versichern dem Mann, der immer ein bißchen in die Ferne blickt und sich nie so richtig auf sein Gegenüber zu konzentrieren scheint, er könne, so er nur wolle, an jeder Oper singen. Aber wenn er so etwas hört, lächelt der Mann nur und lehnt höflich ab, ohne jemals zu sagen, was er im Leben so genau tut.

Der Mann, von dem die Rede ist, heißt James Joyce, geboren am 2. Februar 1882 in Rathgar, einem Vorort von Dublin. Er ist Dichter und Schriftsteller, und eine ganze Menge Literaturwissenschaftler auf der Welt halten ihn heute für einen der bedeutendsten Schriftsteller des letzten Jahrhunderts. Sein Roman „Ulysses“, was im Englischen „Odysseus“ bedeutet, gilt heute als der wichtigste Roman der literarischen Moderne. Im Januar 1916 hat Joyce die Handlung des „Ulysses“ und die vielen Bilder, die er darin malen, und die Szenen und Dialoge, die er gestalten will, fast vollständig im Kopf. Mit dem eigentlichen Schreiben hat er aber noch nicht angefangen.

Der James Joyce, der im Januar 1916 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in einer viel zu kleinen Zweizimmerwohnung in der Zürcher Kreuzstraße Nr. 10 wohnt, hat bis dahin nur eine Handvoll Gedichte, einen Erzählband („Dubliner“) und eine kurze poetische Autobiographie („Ein Portrait des Künstlers als junger Mann“) veröffentlicht. Heute sind das Werke, die jedes Jahr viele tausend Male verkauft werden, von Menschen auf der ganzen Welt gelesen und an Schulen und Universitäten Teil des Curriculums in den Sprach- und Literaturwissenschaften sind.

1916 erhält er erstmals ein Honorar für seine Bücher

Zu Beginn des Jahres 1916 jedoch hat kaum ein Mensch von diesen Büchern gehört, und Joyce hat damit bislang so gut wie kein Geld verdient. Ja, allein der Weg zur Veröffentlichung dieser wenigen Bücher hat sich nicht nur über Jahre hingezogen – nein, Joyce hat so viele und so demütigende Absagen so vieler Verleger erhalten, daß jeder andere Autor wohl längst entnervt aufgegeben hätte.

Neun Jahre hat es gedauert, von 1904 bis 1914, bis Joyce endlich einen Verleger für die fünfzehn Kurzgeschichten der „Dubliner“ gefunden hat. Ebenso vielen Verlegern hat er diese Geschichten, die heute den wohl wichtigsten Band an Short Storys des 20. Jahrhunderts ausmachen, während dieser Jahre angeboten, mußte immer wieder Absagen, teilweise von Anwälten, wegen der angeblichen Obszönität einiger Texte einstecken, bis sich endlich 1914 ein irischer Kleinverlag entschließen konnte, den Band herauszubringen.

Eine der markantesten Erzählungen darin trägt den Titel „Die Toten“. Sie handelt von den Erinnerungen einer Frau an ihre Jugendliebe, an deren frühem Tod sie sich die Schuld gibt. Die Geschichte endet mit dem berühmten Satz: „Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte, und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und Toten.“ John Huston verfilmte die Novelle 1987; es war seine letzte Regiearbeit.

Kaum anders als mit „Dubliner“ ist es Joyce mit dem Roman „Portrait des Künstlers als junger Mann“ ergangen. Auch hier hat sich zwischen 1907, als er das Buch begann, und 1914, als er es abschloß, kaum etwas getan; nur einige Kapitel wurden in einer britischen Suffragetten-Zeitschrift veröffentlicht, die kaum ein Mensch zur Kenntnis nahm. 

Aber das Jahr 1916, das auf ein katastrophales 1915 folgt, als Joyce überstürzt, wie immer ohne Geld und unter Zurücklassung all seiner Sachen aus Triest flüchten mußte, weil er sonst als feindlicher Ausländer in der k.uk.-Monarchie interniert worden wäre – dieses Jahr 1916 also wird besser werden. Joyce wird nicht nur neue und wichtige Freunde und Mäzene kennenlernen; zwei seiner Bücher werden auch in guten Druckausgaben bei einem halbwegs respektablen Verleger in New York erscheinen und ihm zum ersten Mal etwas einbringen, was der berühmteste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der nie einen Literaturpreis bekommen hat, bislang ebenfalls noch nie erhalten hat: ein Honorar.

Als Joyce in diesem Januar des Jahres 1916, immer in seinem kurzen Mantel, von seiner Wohnung die wenigen Meter zum Zürichsee hinuntergeht, da verdichten sich in seinem Kopf immer mehr die Gedanken zum „Ulysses“, dem Roman, der nur an einem einzigen Tag – dem 16. Juni 1904 – in Dublin spielt und den Weg und die Gedanken des Annoncen-Akquisiteurs Leopold Bloom und seiner Frau Molly nachzeichnet. Joyce perfektioniert in diesem als Klassiker der Weltliteratur geltenden Werk die literarische Erzähltechnik des Bewußtseinsstromes („stream of consciousness“), die bis in die jüngste Gegenwart Nachahmer findet, zum Beispiel bei Ulrich Peltzer in seinem Roman „Das bessere Leben“ (JF 50/15).

Ein Augenleiden plagt ihn bis ans Lebensende

Dem Krieg entflohen und erstmals finanziell halbwegs abgesichert, arbeitet Joyce ab diesem Jahr nun regelmäßig und mit unerschöpflicher Energie an den 265.000 Worten, die der „Ulysses“ haben wird, als er am 2. Februar 1922 endlich in einem Pariser Kleinverlag erscheint.

Aber so wie man sagen kann, daß zum Jahresanfang 1916 in Zürich Joyce‘ Jugend und seine Lehrzeit als Autor endet, so fängt auch etwas anderes an: sein Augenleiden. Seit den ersten Wochen des Jahres 1916 leidet Joyce an Schmerzen in den Augen, die sich im Laufe des nächsten Jahres nach und nach dermaßen steigern werden, daß er im August 1917 schließlich mitten auf der Bahnhofstraße zusammenbricht und eine halbe Stunde vor lauter Schmerzen nicht mehr weiß, was er tun soll. Joyce leidet an einem Glaukom, dem grünen Star, der ihn von nun an bis an sein Lebensende am 13. Januar 1941 plagen und mehrere schmerzhafte und gefährliche Operationen erfordern wird. Von nun an wird es ganze Tage und manchmal sogar Wochen geben, während derer Joyce weder lesen noch schreiben kann und im Freien immer eine dunkle Brille tragen muß.

Und trotzdem wird er in der vergleichbaren Ruhe, die ihm Zürich während des Weltkrieges bietet, die Kraft und die Konzentration finden, um den Roman zu beginnen, der wie kein anderer die Methode, Geschichten zu erzählen, verändert hat.